In Bolivien kümmern sich die Kinder um die Toten. Sie gießen ihre Blumen, ziehen ihre Namensinschriften nach und polieren die Glasscheibe vor ihrer Grabnische. Oft beten die Kinder auch für ihre Klienten. Dann falten sie ihre kleinen Hände, blicken andächtig gen Himmel und rattern ein Ave Maria herunter.
In Bolivien heißt es, Kinder hätten eine besondere Verbindung zu Gott: Sie seien noch nicht so lange auf dieser Erde, die einen verdirbt, und deshalb noch näher an der Unschuld. Und so lungern schon Vierjährige an Friedhofstoren herum, um ihre Dienste anzubieten. Der direkte Draht zu Gott bringt ihnen sieben Bolivianos ein, 70 Cent. Das Rundum-Paket inklusive Grabsäuberung das Doppelte. Davon kann man sich dann sieben Empanadas kaufen und die machen erst mal satt.
Doch heute ist nicht viel los auf dem Friedhof der Silberminenstadt Potosí in den bolivianischen Anden, 4000 Meter über dem Meeresspiegel. Cristina lümmelt in einem abgewetzten, dunkelroten Ledersessel, der wie ein ausrangierter Thron im Schatten neben dem Eingang steht. Gleich muss die 15-Jährige zu einer Beerdigung, eilig hat sie es aber nicht. Mit den Beinen über der Armlehne grinst sie ihre fleißigere Freundin Jovanna an. Die ruft den Besuchern wie eine Beschwörungsformel ihr Angebot entgegen: »Grab sauber machen, Blumen pflegen, Blumen gießen!«
Im ärmsten Land Südamerikas sind die kleinen Arbeiter selbstverständliche Protagonisten des Alltags. Fast eine Million von ihnen gibt es, bei nur 10 Millionen Einwohnern. Auf dem Land ernten sie Zuckerrohr, im Supermarkt packen sie Einkäufe in Plastiktüten. Sie halten den Haushalt sauber und kümmern sich um die noch Jüngeren.
Cristina arbeitet, seitdem sie zehn ist. Erst in einem China-Restaurant, jetzt auf dem Friedhof. Wenn sie lacht, blitzt in ihrem ansonsten ebenmäßigen, indianisch anmutenden Gesicht eine kleine Lücke auf: Ihr rechter Schneidezahn ist abgebrochen. Sie versucht das zu verbergen, doch meistens ist ihr Lachen stärker.
Lehrerin möchte sie einmal werden, oder Touristin. Da könne man die Welt sehen. Bisher war sie noch nicht einmal im zwei Stunden entfernten Sucre, das Reiseführer als die beeindruckendste Kolonialstadt Südamerikas anpreisen. Keine Zeit, kein Geld
Vor acht Jahren starb Cristinas Mutter. Ihr Vater fand schnell eine neue Frau und verlor das Interesse an seinen ersten Kindern. Die drei Geschwister leben in einem Raum mit zwei Betten, einem Schrank, einem Tisch und zwei Herdplatten. Die Toilette ist auf dem Hof, genauso wie der einzige Wasserhahn. Hin und wieder schaut der Vater vorbei, aber meistens gibt es dann nur Geschrei, manchmal Schläge, nur selten Geld.
Die Geschwister sind stolz, dass sie ihr Leben allein organisieren, arbeiten und zur Schule gehen. Sie sind stolz auf ihr verdientes Geld und das Pippi-Langstrumpfhafte Dasein. Das sagen sie zumindest, und man glaubt es ihnen. Aber ihre erwachsenen Augen und ihre Behausung verraten, dass es hier nicht oft um »Widewidewid-Bummbumm« geht.
Die Arbeit der Kinder ist für viele Familien überlebenswichtig. Aber sie ist illegal, genau wie die Kinderarbeiter selbst. Und wer illegal ist, der hat keine Rechte, über den kann man verfügen, der wird ausgebeutet und allein gelassen. Die Kunden und Arbeitgeber bezahlen die Kinder häufig nicht und misshandeln sie.
Damit solche Fälle vor Gericht landen, haben die Kinder in Bolivien eine Gewerkschaft gegründet. Zu Tausenden kämpfen sie für ihre Anerkennung und ihr Recht auf Arbeit.
Und sie kämpfen gegen die westliche Konvention, die besagt, dass Kinder keine Arbeit verrichten dürfen. In den Millenniumszielen der Vereinten Nationen ist die allgemeine Schulbildung fest verankert, und das Verbot von Kinderarbeit gilt als wichtigster Schritt, um dieses Ziel zu erreichen. Dass immer noch mehr als 200 Millionen Kinder weltweit arbeiten, ist für Bürger, Politiker, Nichtregierungsorganisationen, Spender und Medien ein nicht hinnehmbares Versagen der Weltgesellschaft und genauso zu verurteilen wie Streubomben oder Tierquälerei.
Cristina und die anderen Kinder glauben allerdings nicht an die guten Worte. Zu wenig hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. Immer noch muss ein Drittel aller Bolivianer von zwei Dollar am Tag leben. »Verbote helfen uns nicht«, sagen sie. »Zuerst sollen die Erwachsenen die Armut und den Hunger abschaffen. Und dann die Kinderarbeit!«
UNATSBO, ihre Union, hat schon einiges erreicht. Als erstes Land der Welt strich Bolivien den Passus »Kinderarbeit ist verboten« aus der Verfassung. Stattdessen heißt es nun: »Die Ausbeutung von Kindern ist verboten.«
Doch was das tatsächlich bedeutet, wird erst in den kommenden Monaten im neuen Arbeitsgesetz Boliviens festgeschrieben. Und da wollen die Kinder mitreden. Sie haben einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der in das neue Regelwerk einfließen soll. 130 Seiten umfasst ihr Papier, 2500 Kinderarbeiter aus dem ganzen Land haben ihre Wünsche eingebracht.
Die Beerdigungsgesellschaft ist eingetroffen. Ein schwarzer Cadillac schiebt sich langsam, mit röhrendem Motor durch das große eiserne Tor und die Einfahrtsrampe hinunter. Im offenen Kofferraum der Sarg, dahinter die Trauernden in Schwarz.
Cristina trägt einen roten Trainingsanzug und darüber ihre rote Hello-Kitty-Tasche, in der sie die Putz- und Malutensilien aufbewahrt. Sie schwingt sich auf den Beifahrersitz, scherzt mit dem Fahrer und legt den Arm auf den Fensterrahmen als ginge es gleich zur Strandpromenade.
Andächtiger ist sie dann am offenen Grab, das in der Wand aus hunderten von beblümten Grabnischen als schwarzes Loch ins Nichts klafft. Auf einer Leiter stehend malt sie in drei Metern Höhe den Namen des Verstorbenen auf seinen Quadratmeter Erinnerung. Die Angehörigen schluchzen zu ihr hinauf.
Ein paar Gänge weiter liegt Cristinas Mutter begraben, noch ein paar Gänge weiter ihr älterer Bruder. Er war einer der Kindergewerkschaftsführer in Potosí. Im vergangenen Jahr hat er sich umgebracht. Warum, darüber mag keiner reden. Er hat Cristina immer zu den Gewerkschaftsversammlungen und Aktionen mitgenommen. Jetzt will sie ihm bei den Wahlen im nächsten Jahr nacheifern und für eine Führungsposition kandidieren.
Kindergewerkschaften gibt es auch in Asien, Afrika und in neun weiteren latein- amerikanischen Ländern. In Bolivien hat die Dachorganisation UNATSBO in allen größeren Städten eine Regionalgruppe. CONATSOP, die Gruppe in Potosí, ist die älteste und stärkste des Landes. Nur eine Handvoll Minenkinder hat sie in den 90er Jahren gegründet, mittlerweile vertritt CONATSOP rund 850 Kinderarbeiter. Die Mitglieder sind in 21 Untergremien organisiert: die Marktverkäuferinnen, die Minenarbeiter, die Hausangestellten, die Zeitungsverkäufer.
Heute ist Samstag, und wie jeden Samstag ist Gewerkschaftsversammlung. Unter Neonlicht sitzen rund 30 Kinder und Jugendliche auf den wenigen Stühlen ihres kleinen Versammlungsraums, auf den drei Schreibtischen oder auf dem Boden. Die Schuhputzer hocken auf ihren Putzboxen. Sie kommen direkt von der Arbeit. Cristina war nach der Beerdigung noch kurz zu Hause, Haare waschen.
Diana ist elf Jahre alt und Küchenhilfe im Restaurant ihrer Großmutter. Sie liest das Protokoll der letzten Versammlung und die Tagesordnung vor, doch die Schuhputzerjungs albern herum und ziehen sich gegenseitig die Boxen unterm Hintern weg. »Klappe halten!« Diana hat ein sehr lautes Organ. Es ist still.
Der Tag des Kindes steht an. Ein offizieller Feiertag für alle Kinder und eine gute Gelegenheit, um die Leute für ihre Sache zu gewinnen. Sie werden einen Informationsstand auf dem Rathausplatz aufbauen. Cristina soll sich um die Plakate kümmern, andere Gruppenmitglieder organisieren die Musik, Spiele soll es geben und etwas zu trinken und zu essen.
Tagesordnungspunkt zwei: Guillermo berichtet von seinem Treffen mit den Vertretern aller lateinamerikanischen Kindergewerkschaften am letzten Wochenende in La Paz, 500 Kilometer weiter nördlich. Es ging um eine gemeinsame Strategie.
Der 17-Jährige ist der oberste Kindergewerkschafter Boliviens, aber der schmächtige Junge redet, als müsste er jedes Wort durch den Kehlkopf an die Öffentlichkeit schubsen. Das Schweißarmband mit dem Totenkopf und die stark gegelten Haare scheint er zu tragen, um sich selbst Mut zu machen. Er arbeitet seit er sieben ist. Seine Jobs haben ihn bis zum Ingenieursstudium getragen, das er kürzlich begonnen hat.
Cristina würde gerne einmal auf so ein internationales Treffen fahren und dann nicht nur nach La Paz, sondern gleich auf eine der internationalen Konferenzen, die die lateinamerikanischen Kindergewerkschaften regelmäßig abhalten. Ihr würde zwar ein wenig davor grauen, unter so vielen Fremden in einem fremden Land, »aber vor Jahren war ich so was von schüchtern. Ich hätte mich nie getraut, vor Leuten zu reden.« Jetzt soll sie am Tag des Kindes Fremden die Gewerkschaftsforderungen erläutern. »Die Gewerkschaft hat mir Mut gegeben, Luz hat mir Mut gegeben.«
Luz, das ist Luz Rivera, eine kleine mollige Frau, die seit zehn Jahren mit den Kindergewerkschaftlern arbeitet. Für sie ist die Sozialarbeiterin Ersatzmutter, Nachhilfelehrerin und Ansporn in einem. Auf den Versammlungen sorgt sie regelmäßig für Ruhe und Struktur, oft auch in ihrem Leben. Luz’ Stelle ermöglichen Terres des Hommes und die Caritas. Wenige Nicht-Regierungsorganisationen wagen, sich für das heikle Thema zu engagieren. Denn auch würdige Kinderarbeit bleibt Kinderarbeit und damit ein Tabu: Sie könnte die Spender verschrecken.
Die NGOs, die offener sind, helfen mit Ratschlägen, Kontakten und Geld. Viel ist es nicht. Der Gruppe in Potosí bleiben jährlich gerade mal 400 Euro für Busfahrten, Telefonate, Internet und den Proviant am Tag des Kindes. Trotzdem ist es ihnen wichtig, unabhängig zu bleiben.
Einmal wollte ihnen ein privater Spender zu viele Punkte ihrer Tagesordnung diktieren, da sagten sie ihm: »Nimm dein vieles Geld und geh!« Am Ende entschuldigte er sich für sein Verhalten, durfte bleiben und mit ihm seine 30.000 Euro, die sie nutzten, um ein neues Versammlungshäuschen zu bauen.
Das fehlende Geld ist nicht das einzige Problem. »Viele Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder so viel Zeit in der Gewerkschaft verbringen«, sagt Luz. Sie dächten, dass die Hausarbeit und die Schule darunter litten. Einige hätten auch Angst, dass die Kinder bei den abendlichen Treffen Alkohol und Drogen konsumieren oder zum Sex verführt werden. Immer wieder verbieten Eltern ihren Kindern die Teilnahme an den Versammlungen, selbst den Gewerkschaftsführern. Die Revolution krankt auch am Hausarrest.
Luz sagt: »Die Leute und eben auch die Kinder müssen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können, dafür brauchen sie Freiraum und Werkzeuge.« Fürsorgliche und meist befristete Wohlfahrtsprojekte von NGOs seien nutzlos. Bei fast einer Million Kinderarbeitern sind solche Projekte ein Tropfen auf den heißen Stein, und selbst den Familien, die sie erreichen, können sie nicht dauerhaft helfen. Für einen gewissen Zeitraum erhalten die zwar Nahrungsmittel und Unterrichtsmaterialien. Doch wenn die Programme ausgelaufen sind, müssen die Kinder meist wieder arbeiten. »Und dann? Dann haben sie nicht einmal mehr einen Job!«
Über UNICEF und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) kann sich Luz in Rage reden. »Seit zehn Jahren kämpft Bolivien nun gegen Kinderarbeit und nichts hat sich geändert. Im Gegenteil, die Lage ist noch schlimmer geworden.«
Ein Werkzeug, an das alle glauben, ist die Bildung. Ein Viertel ihrer Einnahmen geben die Kinderarbeiter im Schnitt für Hefte und Schuluniformen aus. Sie fehlen zwar häufiger im Unterricht, ihre Leistungen sind aber nur geringfügig schlechter als die der nichtarbeitenden Schüler.
Wenn Cristina über ihre Zukunft spricht, sagt sie die Formeln »etwas lernen« und »einen Abschluss machen« wie ein Mantra auf. In der Schule sitzt sie ganz vorne, ihre Hausaufgaben schreibt sie in einem Haushalt ohne Schreibtisch und Rückzugsraum in ein Heft ohne Eselsohren.
Für Alvaro, 16, Sprecher der minderjährigen Minenarbeiter, ist die Bildung sogar wichtiger als die Gesundheit. Er hat warme Augen, hohe Wangenknochen und eine ruhige Stimme. Durch eine schlammige Rinne watet er hinein in den dunklen Gang einer Silbermine. Im diffusen Licht der Stirnlampe wirkt er noch knochiger als bei Tageslicht. Wenn er stehenbleibt, um sich zu orientieren, ist es so still wie in einer leeren Kathedrale. »Als ob du dich von allem da draußen verabschiedest.«
Er setzt den Pickel an und beginnt, den Stein zu bearbeiten. Immer im gleichen Rhythmus, stundenlang. Natürlich, sagt er, würde er lieber einen anderen Job haben, Schuhe putzen zum Beispiel. Aber dann müsste er viel mehr arbeiten, um aufs selbe Geld zu kommen, und er würde das Lernpensum fürs Gymnasium nicht mehr schaffen. Ingenieur möchte er werden. Bis dahin arbeitet er hier, jedes Wochenende und in den Ferien. Um durchzuhalten, kaut er vor jedem Gang in die Dunkelheit Koka-Blätter.
Seinen Opa, einen Onkel und zwei Freunde hat er bereits in der Mine verloren. Trotzdem sagt er, die Arbeit habe ihn zu einem besseren Menschen gemacht, sie hätte ihn stark gemacht. Er hätte gelernt zu teilen, Verantwortung zu übernehmen.
In der andinen Kultur Boliviens verbindet man mit dem Konzept Arbeit nicht Schweiß, Quälerei und Pflicht, sondern Gemeinschaft, Austausch und Charakterbildung. Die heutigen Bedingungen lassen dafür kaum Raum. Kinder, die in Fabriken im Akkord schuften und ausgebeutet werden, lernen nur wenig über Eigenverantwortung und Gemeinschaftssinn. Und es gibt tausende, denen es so ergeht.
Neben der Verfassungsänderung konnte die Gewerkschaft auch im Kleinen etwas erreichen. In Potosí setzte sie sich für die Zeitungsjungen ein und überzeugte den Chef, mehr Lohn zu zahlen. In Cochabamba bewegte sie die Stadt dazu, Arbeitsausweise an die Kinder zu verteilen, also als legitime Arbeiter anzuerkennen. Seitdem werden die Kinder nicht mehr so schnell vertrieben oder hintergangen.
Durch ihre Mitwirkung am geplanten Arbeitsgesetz erhoffen sie sich jetzt den ganz großen Wurf. Ein Anwalt und mehrere NGOs haben ihnen beim Formulieren geholfen. Cristinas dringlichster Wunsch ist der Respekt vor ihr und ihrer Arbeit. »Viele denken, unsere Arbeit ist etwas Schlechtes. Sie denken, wir sind alle Diebe, trinken Alkohol und schnüffeln Klebstoff. Das stimmt nicht.«
Der Tag des Kindes ist schneller gekommen als die Vorbereitungen abgeschlossen sind. Wo ist denn das Klebeband? Wer sollte noch mal die Schnur mitbringen? Der Informationsstand will einfach nicht stehen bleiben. Links präsentiert sich schon vorbildlich ein SOS Kinderdorf. Cristina hält gelbe Plakate mit Infos und Fotos unterm Arm. Die Wand zum Aufhängen ist noch nicht aufgebaut. An ihr vorbei hetzen die Gewerkschaftsführer. Der Stadtrat hat sie eingeladen, er will ihnen eine Anerkennungsurkunde verleihen. Darin steht, dass Potosí nun immer am 9. Dezember den Tag der Würde der Kinderarbeit feiert und mit den Kindern über mögliche Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen sprechen will. Ein Erfolg.
Im Laufe des Tages verbreitet sich, was Präsident Evo Morales in seiner Rede zum Tag des Kindes gesagt hat. Er sei stolz, selbst ein Kinderarbeiter gewesen zu sein, verkündet er, Kinderarbeiter würden ihren Familien und ihrem Land einen großen Dienst erweisen.
Luz Rivera hat eine Idee: Guillermo könnte doch einen offenen Brief an den Präsidenten schreiben, um die Diskussion auf die höchste politische Ebene zu bringen. Am Abend setzt der Junge sich an den alten Computer der Gewerkschaft und starrt auf den leeren Bildschirm. Was schreibt man seinem Präsidenten? Er beginnt mit einem »revolutionären Gruß«, auch wenn er Morales’ Politik sonst nicht schätzt, und schreibt: »Die Realität dieses Landes zwingt uns nun mal zu arbeiten, denn die Wirtschaft kommt nicht voran.« Dann bittet er höflich um Unterstützung für ihren Gesetzentwurf.
Der Gruppe in Cochabamba ist das zu wenig. Sie fordert mehr Aggressivität von ihrem Führer. Der Brief wird hin- und hergeschickt, fünf Tage lang. Dann geht er raus an den Präsidenten, mehrere Abgeordnete und die Zeitungen.
Die Aufregung ist groß. Guillermo rechnet eigentlich jederzeit damit, den Präsidenten am Handy zu haben. Doch der Präsident hat derzeit andere Sorgen. Sein Land wird von mehreren Streiks fast lahmgelegt. Er ruft nicht an. Die Politiker und Zeitungen auch nicht.
Sucht man nach Boliviens politischer Linie zum Thema Kinderarbeit, stöß man auf Widersprüche und Ratlosigkeit. Im Arbeitsministerium erzählt die Beauftragte zur Abschaffung von Kinderarbeit, dass man sich durchaus vorstellen könnte, Kinderarbeit unter bestimmten Bedingungen zu legalisieren. Die internationalen Abkommen, die Bolivien zu ihrer Abschaffung unterzeichnet hat, könne man ja wieder auflösen.
Die Präsidentin der Kommission hingegen, die das neue Arbeitsgesetz entwirft, sieht ihr Land in der Pflicht, die Abkommen zu erfüllen. »Kinderarbeit ist Gewalt am Kind«, sagt sie, und dass sie absolut gegen eine Legalisierung ist. Aber sie weiß, dass auch das Verbot nicht hilft: »Was wir wollen, ist eine Sache. Eine andere ist die Realität Boliviens. Tausende Kinder arbeiten, und wenn wir ihnen die Arbeit nehmen, nehmen wir ihnen die Möglichkeit zu leben, zu essen und sich zu bilden.«
Auch die Internationale Arbeitsorganisation ist gegen eine Legalisierung. Dann aber erzählt die zuständige Dame in der bolivianischen Vertretung von ihrer 13-jährigen Tochter, die im Sommer im Ferienlager als Schwimmlehrerin gearbeitet hat. Ähnliches hört man von erwachsenen Gewerkschaftlern, in Stadtverwaltungen und im Büro einer Minengesellschaft, die Kinder beschäftigt.
Doch die kleinen Gewerkschafter haben ein noch grundlegenderes Problem. Nur wenige Politiker wissen überhaupt, dass die Kinderarbeiter einen eigenen Entwurf formuliert haben. Selbst die Präsidentin der Gesetzgebungskommission kennt das Papier nicht.
Guillermo sagt, Evo Morales habe vor einem Jahr einen Großteil der politischen Riege ausgetauscht. »Seitdem sind wir einfach noch nicht dazu gekommen, den Gesetzentwurf an die neuen Politiker zu schicken. Das kostet ja auch Geld.«
Viel Zeit bleibt nicht. Bald wird über das neue Arbeitsgesetz entschieden.
Immerhin konnte Guillermo mal wieder den Gewerkschaftsverband COB auf die Belange der Kinder aufmerksam machen. Dem zuständigen Funktionär hat er die Zusage abgetrotzt, am Tag der Arbeit zusammen mit den erwachsenen Arbeitern zu marschieren. Es ist das erste Mal, dass sie an der großen Demonstration teilnehmen dürfen. »In solch schweren Zeiten müssen wir uns alle vereinigen«, erklärte der Mann. »Aber nur die, die älter sind als 14, nicht die ganz Kleinen.«
Jetzt stehen sie auf dem Platz der Minenarbeiter, es ist zwei Uhr. So haben sie es vor zehn Tagen ausgemacht. Doch niemand sonst ist gekommen. Cristina stützt sich auf den Holzstab, der den grünen Wimpel der Kindergewerkschaft trägt, Alvaro kickt Steine durch die Gegend. In Bolivien wartet man oft. Und in zehn Tagen kann sich viel ändern: »War nicht gestern Abend schon so eine große Demonstration?«, fragt einer. »Nein, das kann doch nicht sein!«
Luz ist wütend und empört. Sie wurden versetzt. Der Termin für die Demonstration wurde geändert und niemand hat ihnen Bescheid gesagt. Mit hängenden Fahnen marschieren sie zum neuen Versammlungshaus, in dem am Abend die Party zum Tag der Arbeit steigen soll. »Wir haben eine Chance verpasst«, sagt Cristina. Die Genossen in Cochabamba sind mit der COB marschiert.
In Potosí ist die Enttäuschung bis zum Abend verflogen. Cristina tanzt. Ihre Klamotten, die sie heute Morgen ausgewählt hat, passen ohnehin besser zu der Party als zur Revolution.
Alvaro tanzt. Guillermo tanzt. Diana, die sonst die Tagesordnung immer so resolut vorliest, tanzt.
Unter buntem, kreisenden Licht und einem Plakat, das einen fröhlichen Tag der Arbeit wünscht, sind sie bis spät in die Nacht hinein einmal nicht Minenarbeiter, Küchenhilfen, Schuhputzer oder Marktverkäuferinnen. Sie sind ausgelassen.