Israelische Frauen laden palästinensische Kinder an den Strand von Tel Aviv ein. Einen Tag lang schwimmen, planschen, Burgen bauen. Abends müssen sie wieder zurück in das Land, das die Israelis eingemauert haben. Ist das jetzt nett – oder zynisch? Eine Geschichte zwischen Gischt und Tränengas
Für einen Tag könnte ihre Welt so friedlich aussehen: Quietschend vor Vergnügen könnten die Kinder von Nabi Saleh in die Gischt des Mittelmeers stürmen. Johlend würden sie sich um die Schwimmreifen balgen und am Ende des Tages aus rotgeränderten Augen auf die Weite des Wassers blicken.
Doch die Menschen von Nabi Saleh sind dagegen. »Das sieht zu friedlich aus, zu idyllisch«, sagen sie. Von ihrem Dorf bis ans Meer sind es nur 30 Kilometer. Aber dazwischen steht der Grenzzaun, der das Westjordanland und Israel voneinander trennt. Für die Leute in Nabi Saleh ist der Tag am Strand, den israelische Frauen für ihre Kinder organisieren, ein Affront. »Als würden wir akzeptieren, dass Israel uns das Meer verbietet und uns nur nach aufwendigen Genehmigungsprozeduren einmal den großen Zeh hineinhängen lässt.« Als würden sie sich eine gute Besatzung wünschen. Aber sie wollen keine gute Besatzung, sie wollen gar keine Besatzung.
Einige Kilometer südlich von Nabi Saleh, ebenfalls im Westjordanland, liegt Ni’lin. Hier fahren die Kinder ans Meer. Ihre Eltern finden nichts Verwerfliches an der Einladung der Israelinnen. Sie meinen: »Palästinenser zusammen mit Israelis im Meer, das ist die richtige Botschaft für die Welt: Ein friedliches Zusammenleben ist möglich.«
Seit zwei Jahren organisieren vier israelische Frauen für palästinensische Kinder Tage am Meer. 2011 waren es 20 Ausflüge, an denen insgesamt 900 Kinder und ihre Begleitpersonen teilnahmen. Die Frauen wollen den Kindern einen unbeschwerten Tag am Meer ermöglichen. Ihnen zeigen, dass es auch Israelis gibt, die nicht Soldaten oder Siedler sind.
»Was wollen die mit unserem trockenen Land?«
Muhamed Ameera, Lehrer an der Schule von Ni’lin, schätzt den guten Willen der Israelinnen. »Wir freuen uns immer sehr, wenn wir auf der anderen Seite Leute finden, die an unsere Rechte glauben und friedlich mit Palästinensern leben wollen.« Mit seinem alten Auto fährt er 30 Kilometer nördlich von Ramallah die Staubstraßen Ni’lins ab. Er verteilt 58 Reiseerlaubnisse unter den rund 5000 Einwohnern. In der Familie, von der er gerade kommt, flossen Tränen. Zwei der Kinder können mitfahren, zwei nicht. Die isralischen Behörden genehmigten nur die Anträge der beiden Jüngsten. »Es ist immer besser, fünf Kindern eine Freude zu machen als keinem«, meint Muhamed.
»Wenn du in der Wüste durstig bist, dann solltest du trinken. Es kommt nicht darauf an, wer dir das Wasser gibt«, sagt Muhamed Ameera. Der Tag am Meer sei ein Angebot, was die Leute daraus machten, ihre Sache. Auf manche werde sich der Ausflug positiv auswirken, auf manche vielleicht negativ. Im vergangenen Jahr kamen einige Mütter vom Meer zurück und waren ganz erstaunt, berichtet Muhamed: »Wenn Israel so schön ist, wenn sie Tel Aviv und das Meer haben: Was wollen die dann mit unserem trockenen Land?«
Muhameds Land konfiszierten die Israelis 2004, noch vor dem Bau der Mauer. Es gehört jetzt zu einer Siedlung. Die Oliven von den Bäumen auf der ein Hektar großen Fläche erntet nun ein Siedler, die Schafe, die darunter grasen, sind nicht mehr seine. In Ni’lin verloren so 124 Familien ihr Land. Mittlerweile sind nach einem Bericht der israelischen Menschenrechtsorganisation Btselem 40 Prozent des Westjordanlands unter der Kontrolle von Siedlern. 2008 wurde die Mauer gebaut, sie trennte die Menschen von Ni’lin für immer von ihren Bäumen. Sie hatten protestiert. Sie stellten sich vor die Bulldozer, hielten sich an den Bäumen fest. Friedlich wollten sie protestieren, nach dem Vorbild von Gandhi und Nelson Mandela.
Fünf Tote hat es seitdem in dem Dorf gegeben, gestorben an den Verletzungen von Gummi- und Tränengasgeschossen. Es gab Ausgangssperren und Tausende Verhaftungen. Die Ni’liner demonstrieren noch immer jeden Freitag. Es sind nicht mehr so viele Teilnehmer, und es fliegen nicht mehr so viele Tränengasgeschosse. Aber sie wollen ihr Land zurück, 40 Prozent der ursprünglichen Fläche sind das für ganz Ni’lin. Muhamed gehört zum Volkskomitee, das die Proteste organisiert. Kürzlich ist er wieder bei einer Demonstration verhaftet worden: eine Woche Gefängnis und 600 Euro Strafe. Muhamed sagt, er habe friedlich demonstriert, das Militär sagt, er würde die Leute aufwiegeln.
Die Ni’liner vertrauen dem Lehrer. An den Türen empfangen ihn Kinder mit strahlen¬den Gesichtern und Erwachsene mit einladenden Gesten. »Muhamed, Muhamed, nimmst du mich mit ans Meer?« In einem Haus versteckt ein wütendes Mädchen, das nicht mitdurfte, das Tagesvisum ihrer Mutter. Die Aufregung ist groß, doch Muhamed kann vermitteln, und die Bescheinigung taucht im Kühlschrank wieder auf.
An die Grenzen seiner Vermittlungsfähigkeit stößt er jedoch, wenn er seinen vier Kindern die Situation erklären soll. »Es bringt mich immer in Verlegenheit, wenn sie mir Fragen stellen.« Warum gehört ihr früheres Land jetzt einem Siedler? Was soll er dazu sagen? Er will keinen Hass in sie pflanzen. Er will ihnen vermitteln, wie wichtig es sei, ohne Gewalt zu protestieren und mit der anderen Seite zusammenzuarbeiten. Initiativen wie der Tag am Meer könnten eine Möglichkeit sein.
Katz- und Maus-Spiel im Westjordanland
Die Menschen von Nabi Saleh sehen darin keine Möglichkeit, sondern eine Zumutung. In ihrem Dorf ist der Protest gegen die Besatzung allgegenwärtig. Jeden Freitag demonstrieren viele der 500 Einwohner gegen die Landnahme durch die angrenzende Siedlung und gegen die Besatzung überhaupt. Die israelische Armee antwortet mit Tränengasgeschossen. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Demonstranten und Soldaten hat vor einigen Wochen ein erstes Todesopfer in dem Dorf gefordert. Der 28-jährige Mustafa Tamimi starb, weil ihm ein Soldat aus kurzer Entfernung eine Tränengaskartusche ins Gesicht geschossen hatte. Zuvor hatte Tamimi einen gepanzerten Jeep mit Steinen beworfen.
Jede Woche Tränengas. »Da fahre ich doch nicht mit denen ans Meer!«, sagt ein Vater. Die Empörung grollt aus seinem Bauch heraus. »Ich will dieselben Rechte wie der Siedler da drüben, der jetzt auf meinem Land wohnt. Ich will ans Meer fahren, wann und wie mir das passt. Und nicht durch die Gnade von irgendeinem Israeli.«
In Nabi Saleh teilen angeblich alle diese Meinung. Immerhin teilen sich hier auch alle einen Nachnamen: Tamimi. Man hält zusammen. Es gibt die »Tamimi-Press«, die Videos von beschossenen Demonstranten ins Netz stellt. Jeden Freitag richtet eine andere Tamimi-Familie das große Abendessen aus, das die Protes¬tierer von Nabi Saleh wieder stärken soll – darunter sind auch Unterstützer aus Israel und Europa.
»Wir brauchen nicht nach Israel zu fahren, um zu sehen, dass es auch Israelis gibt, mit denen man normal reden kann«, sagt Manal Tamimi. Sie ist eine der Wortführerinnen der Proteste und saß deswegen zweimal im Gefängnis. Die Mutter von vier Kindern hat das Pech, im ersten Haus der Dorfstraße zu wohnen. Dort, wo die Soldaten meist ihren ersten Posten errichten. An manchen Samstagen sammelt sie bis zu 60 tennisballgroße Tränengas¬geschosse und Patronen ein.
Nabi Saleh demonstriert seit Dezember 2009, seit Siedler nach Hunderten Hektar Olivenhainen auch noch die Wasserquelle des Dorfs konfiszierten. Seitdem wurde ein Mensch getötet, zirka 250 wurden verletzt und Dutzende verhaftet. Wie oft die Soldaten in Häuser eindrangen oder sie mit Tränengas ausräucherten hat niemand gezählt. Das Militär rechtfertigt sein Vorgehen damit, dass die Siedler Angst um ihr Leben hätten, wenn auf der anderen Seite regelmäßig demonstriert werde.
Manal sagt: »Würden wir ans Meer fahren, wäre das, als ob wir 364 Tage im Jahr gegen die Regeln der israelischen Regierung protestieren und an dem einen Tag aber nach ihren Regeln spielen. Nach ihren Regeln den Kontrollposten passieren, an ihrer Hand das Meer sehen.«
Es gibt keinen Urlaub von der Besatzung
Elham Tamimi wohnt mit ihrer Familie etwas abseits von der Demonstrationsroute. Trotzdem landen auch in ihrem Haus Tränengasgeschosse. Hier Kinder zu toleranten Menschen zu erziehen, sei schwierig, sagt sie. Nebenan liest ihre elfjährige Tochter Raneen auf Facebook die neuesten Nachrichten über die Proteste. Wie jeden Freitagvormittag verbarrikadiert sie dann gegen Mittag zusammen mit ihrem Vater und dem fünfjährigen Bruder die Fenster, damit keine Tränengasgeschosse eindringen können.
Wäre ein Ausflug ans Meer für die Kinder keine schöne Auszeit? »Nein, die Kinder müssen begreifen, was es heißt, unter Besatzung zu leben«, sagt Essam Tamimi. Er ist nicht empört, seine blauen Augen schauen nur müde zu Boden. Es gebe schließlich keinen Urlaub von der Besatzung. Essam arbeitet für die palästinensischen Sicherheitskräfte. Wie Witzfiguren kämen sie sich manchmal vor, sagt er, ohne jeden Handlungsspielraum. Dann würde er am liebsten hinschmeißen. Aber das geht ja nicht. »Wir müssen alles versuchen, um als friedliches Land und Volk anerkannt zu werden.«
Und die vier israelischen Rentnerinnen, die den Tag am Meer organisieren? Sie wissen, was sie tun und was sie damit auslösen. »Stundenlang haben wir diskutiert«, sagt Rachel Afek am Küchentisch in Ramat Hasharon, nördlich von Tel Aviv. Man sieht ihrer Wohnung an, dass sie früher für ein Kunstmagazin gearbeitet hat. Es gibt Tee aus frischen Kräutern und eine Schale mit Mandeln und Rosinen.
Sie wirft das alte Fragenkarussell noch einmal an: »Wie sollen wir es angehen? Sollen wir so viele Kinder wie möglich einladen oder immer mit denselben Dörfern zusammenarbeiten? Was werden die Kinder hinterher denken? Sind sie nicht umso frustrierter, wenn sie später nicht mehr ans Meer können? Und was sind wir? Ein politisches oder ein humanitäres Projekt?« Die Fragen beschäftigen die Frauen immer wieder aufs Neue.
Für Rachels Freundin Tzwia Shapira ist das Projekt kein rein humanitäres. Der israelischen Regierung gehe es um die totale Trennung von Israelis und Palästinensern. »So ist es einfach, den Israelis Angst einzujagen vor diesem schrecklichen Etwas, das sich Palästinenser nennt«, sagt die 69-Jährige Biowissenschaftlerin. Und Palästinenser sähen nur Soldaten und Siedler, die ihnen ihren Grund und Boden nähmen. Der Tag am Meer solle »diese separatistische Politik« unterwandern, wie sie die israelische Sicherheitspolitik nennt. Manchmal sagt sie auch »Apartheid« dazu.
Früher stand Tzwia auf einer Linie mit der Politik ihrer Regierung. Flaggen mit dem blauen Davidstern schmückten ihr Haus. Sie war sehr stolz auf ihr Land. »Aber dann haben mir meine Söhne die Augen geöffnet.« Der eine Sohn kam traumatisiert aus einem Militäreinsatz der zweiten Intifada zurück. Er konnte nicht ertragen, was seine Einheit den Palästinensern angetan hatte. Der andere weigerte sich als Pilot der Luftwaffe, auf zivile Ziele zu schießen, er wurde entlassen. »Sie fragten mich: Was für eine Nation habt ihr da aufgebaut?« Seitdem sei sie viel in palästinensischen Gebieten unterwegs gewesen, sie wollte sehen, was dort vor sich geht: »Das Wegsehen ist unsere Gefahr, das Nichtwissen, das Nicht-wissen-Wollen.«
»In Israel ist sicher alles schöner«
Der Tag, an dem die Kinder von Ni’lin ans Meer fahren, beginnt mit einem Problem. Es gibt 58 Tagesvisa und 51 Sitzplätze im Bus. Nach zwei Stunden Diskussion fahren der Bus und ein zusätzliches Auto endlich los. Viele Kinder passieren das erste Mal die Grenze. Der zwölfjährigen Wafa ist das nicht geheuer. Ihr Elternhaus steht in der Nähe der Sperranlage. Bisher hat sie mit dieser Mauer nichts Gutes erlebt. Aber sie freut sich aufs Meer. »In Israel, da ist sicher alles größer und schöner.«
Auch in Nabi Saleh stellt man sich ein schönes Israel hinter der Mauer vor. Für die elfjährige Raneen ist es außerdem ein Land, in dem viele freundliche Menschen leben. Trotzdem möchte sie nicht an dem Meerprojekt teilnehmen und sagt in einem Tonfall, als spräche eine Erwachsene: »Ich werde mein ganzes Leben hart dafür ar¬beiten, dass es ein freies Palästina gibt.«
Ihr Vater und ihr Bruder Mahmoud machen sich wie jeden Freitag kurz vor zwölf Uhr auf zur Moschee. Im Schatten eines Baumes haben sich 30 Unterstützer aus Kanada, Spanien, Israel, den Niederlanden und England versammelt. Manche haben Schwimmbrillen gegen das Tränengas bei sich, alle tragen Tücher und Schals, um sich später das Atmen etwas zu erleichtern. Als die Männer aus der Moschee kommen, formiert sich ein Zug aus 70 Menschen. Langsam biegt er um die Ecke auf die Dorfstraße. »Weg mit der Besatzung!«, rufen die Demonstranten.
Mahmoud und sein Vater bleiben am hinteren Ende. Sie wissen, warum. Nach ein paar Metern landet das erste Geschoss in der Menge. Dann zischt es von allen Seiten, das Gas breitet sich sofort aus, man kann nur noch durch einen Tränenschleier sehen. Das Gesicht brennt, die Lunge brennt, Würgereiz. Die Demonstranten fliehen in die nächsten Häuser.
In abgedunkelten Räumen sitzen sie mit roten Augen auf dem Boden, hustend und nach Luft ringend, um wieder Energie zu sammeln für die nächsten Demonstrationsmeter. Einige Kinder blicken stumm aus verheulten Augen. Sie waren nicht so weit zurückgeblieben wie Mahmoud und sein Vater. Immer wieder fallen Schüsse, gepanzerte Jeeps sind auf den Straßen zu sehen. Die Bilanz des Tages: ein verhafteter 14-Jähriger und ein schwer verletzter 15-Jähriger, eine Tränengaskartusche traf ihn in den Rücken.
Wafa hat sich am Salzwasser verschluckt, sie ringt nach Luft, aber es ist großartig. Einige Mütter wagen sich mit ihren langen Gewändern in die Schwimmreifen und lachen mit ihren Kindern um die Wette. Rachel und Tzwia kümmern sich mit einer Handvoll Freiwilliger um ihre Gäste. Sie cremen ein, verteilen Eis und Kekse, pusten Schwimmreifen auf und halten die Zögerlichen beim Gang ins Wasser an der Hand. Später gibt es Mittagessen in einem Schulzentrum, zwei Clowns bringen die Kinder zum Lachen, zum Abschluss fährt ein Schiff die Gäste durch den alten Hafen von Jaffa und aufs Meer hinaus. Am Ende sind die Kinder müde und glücklich.
Spaß, Neid und Hoffnung auf Frieden
Für manche Erwachsenen hat der Tag einen bitteren Nachgeschmack. »Natürlich hatte ich heute großen Spaß«, sagt eine junge Mutter, die schon zum zweiten Mal dabei war. »Aber es macht mich auch neidisch. Ich möchte ja wieder ans Meer fahren und weiß, dass ich das nicht kann. Und deswegen möchte ich es umso mehr.« Ihre Schultern zucken zum sonnenverbrannten Gesicht. »Im Großen und Ganzen bin ich hinterher wohl frustrierter als vorher. Trotzdem: Es war großartig.«
5000 Schekel, etwa 1000 Euro, kostet so ein Tag am Meer. Er wird aus Spenden finanziert. Anfangs gab es Kommunikationsprobleme: »Die Kinder fragten, ob wir von der Hamas seien oder von der EU«, erzählt eine Freiwillige. Seitdem werden von den Spenden auch Flyer verteilt, auf denen steht, wer das Projekt organisiert. Und dass es der Verbrüderung von Israelis und Palästinensern dienen soll.