Ausstellung 2024 Hamburg/Quito

AKUT. (Should trees have Standing?)

AKUT. Should trees have Standing?

Hamburg: Westwerk, MOM, Ladons
Quito: Centro Culutural Metropolitana (CCM)

Wir leben in dystopischen Zeiten. Der Planet läuft in immer rascherer Geschwindigkeit auf eine ökologische Katastrophe zu, während es der Weltgemeinschaft immer schwerer fällt, selbst die grundlegendsten Menschenrechte zu sichern. Ein hilfreiches Mittel könnte hier aus der Justiz und von den Menschen selbst kommen: die Änderung unserer Rechtssysteme und Weltbilder, die Erklärung der Natur zum juristischen Subjekt.

Christopher Stones Text »Should trees have standing?« von 1972 gilt als einer der Urtexte dieser Utopie, die in manchen Ländern – zumindest auf einigen Ebenen – schon Realität geworden ist. Hier hat die Natur ein Existenzrecht aus sich selbst heraus. Sie ist ein Wesen, das Respekt verdient. Ein Subjekt statt ein Objekt, das man nach Belieben ausbeuten kann. Menschen können in ihrem Namen vor Gericht ziehen und ihre Rechte einfordern. Sie sind schließlich selbst Natur. Am weitesten fortgeschritten ist die Idee in Ecuador, wo sie seit 2008 in der Verfassung verankert ist. Die multimediale Ausstellung mit demselben Titel wie Stone’s Urtext erkundet das Zusammenspiel von Natur und Gerechtigkeit auf künstlerische Art und Weise und fragt nach der Möglichkeit, unser Verhältnis zur Natur und damit auch zu uns selbst radikal zu über denken. Künstler*innen u. a. aus Ecuador, DR Kongo, Frankreich und Palästina führen mit ihren konstruktiven Visionen an die dringliche Thematik heran.

Die Zeit der Neutralität ist vorbei. Wir müssen AKUT etwas ändern, wenn wir auch in Zukunft noch möglichst viel lebenswertes Leben auf diesem Planeten erfahren wollen. Kunst ist ohnehin nie neutral. Entweder sie hält den Status Quo aufrecht oder sie stört ihn. Wie alles Tun. AKUT will stören und Visionen anstoßen, wie es schöner werden könnte. Wie es gerechter werden könnte. Weltbilder und Rechtssysteme sind Instrumente, mit denen man elementare Veränderungen in kurzer Zeit vorantreiben kann. Das geht auch mit Umstürzen, endet dann aber meist ziemlich blutig und tödlich. Deshalb versuchen wir es hier erst einmal friedlich mit der Revolution auf dem Papier, an der Wand und in den Köpfen. Und damit in der Kunst.

Ein inspirierendes Rahmenprogramm aus Gesprächen, Vorträgen und Performance bietet außerdem ein Forum für Austausch und Erkenntnisgewinn. Hier kann man sich mit Gleichgesinnten über kreative Lösungsideen für eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft vernetzen und über die Ausstellung hinaus aktiv werden. Kuratiert und organisiert von Sam Gora und Elisabeth Weydt sowie einem ganzen Netz aus diversen Wesen, Institutionen und Projekten.

Aus der Kunst mit: Paula Erstmann, Sam Durant, MADE BY US , Khaled Hourani, Verena Issel, Felix Jung und Margaux Weiss, Sam Gora, Elisabeth Weydt, Misha Vallejo Prut, Maria Sturm, Georges Senga, Mali Arun, Sofía Acosta, Julia Nordholz

Im Gespräch mit: Kübra Gümüsay, Alena Jabarine, Quichote Kaffee, Lisa Maria Otte, Andreas Gutmann, German Zero Hamburg, Cecelia Marshall, Mariam Dabdoub

Umgesetzt von Radio Utopistan, Gängeviertel, Westwerk

Gefördert von: Greenpeace Umweltstiftung, Norddeutsche Stiftung Umwelt und Entwicklung, Katholischer Fonds, Engagement Global, Winter Stiftung für Rechte der Natur, Hamburg Behörde für Kultur und Medien

Casa Humbold Quito, Centro Cultural Metropolitano

Buch, 2023

Die Natur hat Recht

Erschienen im Knesebeck Verlag

DIE NATUR HAT RECHT. Wenn Tiere, Wälder und Flüsse vor Gericht ziehen. Für ein radikales Umdenken im Miteinander von Mensch und Natur

Die Welt steht kurz vor dem ökologischen Kollaps. Der Lebensstil der Industrienationen zerstört seit langem die Lebensgrundlagen des gesamten Planeten, und die Zeit die Richtung zu ändern wird immer knapper. Leben wird zunehmend lebensbedrohlich.

Ein hilfreiches Instrument könnte hier paradoxerweise ein sehr langwieriges sein: die Änderung unserer Weltbilder und Rechtssysteme, die Erklärung der Natur zum juristischen Subjekt. Ecuador ist das Land, in dem diese Idee am weitesten fortgeschritten ist, und weltweit setzen sich Initiativen dafür ein. Immer mehr Ökosysteme werden zu juristischen Personen erklärt, auch in Europa.

Elisabeth hat seit 2006 immer wieder viel Zeit in Ecuador verbracht und auch in anderen Ländern zu Rohstoffabbau und Landrechten recherchiert. Sie berichtet in eindrücklichen Geschichten, Analysen und Portraits von den Menschen, die diese Idee in die Realität übersetzen und vom Geflecht der wirtschaftlichen und juristischen Verstrickungen, die das erschweren.

Leseprobe:

Es geht bei diesen Systemveränderungen nicht nur um offensichtliche ökologische Nachhaltigkeit. Es geht um alles, was das Leben auf diesem Planeten nachhaltiger und weniger zerstörerisch gestaltet. Es geht um ein Ende von Rassismus, Sexismus, Kriegen, Armut, Macht- und Geldkonzentration. Ein Ende von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, Bildungsbenachteiligung, mangelhafter Gesundheitsversorgung und allem, was sonst noch so richtig schlecht läuft auf diesem Planeten. Denn nur, wenn alle mitmachen, kann die größte Aufgabe, vor der die Menschheit je stand, überhaupt gemeistert werden: Die Umweltzerstörung sofort zu beenden, bevor die unumkehrbaren Kipppunkte überschritten sind, auch wenn die Wirtschaft so vieler Nationen noch immer von genau dieser Umweltzerstörung abhängt und auch die nächsten Jahre damit kalkuliert.

Jeden Tag können wir aufs Neue entscheiden, in welche Richtung wir uns bewegen. Als Einzelne, als Unternehmen, als Gesellschaften und als Weltgemeinschaft. Jeden Tag gilt es so viele Entscheidungen zu treffen – vom ersten Getränk am Morgen bis zur Abendgestaltung. Ich sage Ihnen nicht, welche für Sie die richtigen sind. Ob Sie in den Urlaub fliegen oder nicht, ist Ihre Sache. Oder ob Sie noch ein Kind in diese Welt setzen, jeden Tag Tierprodukte essen oder ein Haus bauen. Sich zivilgesellschaftlich engagieren. Das können nur Sie entscheiden. Es kommt schließlich auf Ihre Lebenswirklichkeit an, Ihre Talente und Möglichkeiten, Ihre Machtposition und Ihre Weitsicht.

Was ich aber sagen will, ist: Um wirklich etwas zu verändern, braucht es Mut. Und Kraft. Und Einsatz. Woher das kommt, kann ich Ihnen auch sagen. Dafür durfte ich in meinem Leben schon vielen mutigen Menschen begegnen und sie ein Stück begleiten. Mut und Kraft können aus der Angst entstehen. Dann wird es aber schnell wieder zerstörerisch. Der konstruktive Mut, der kommt von der Liebe. Liebe nicht im kapitalistischen Sinn von Besitzanspruch, Kontrolle und vermeintlicher Sicherheit, sondern im Sinne von Verbundenheit in Freiheit. Sie gibt Mut und Kraft.

Wen oder was lieben Sie so? Was wären Sie bereit dafür zu tun?

Interview auf WDR5

Videoportraits, 2017

deRadika

deRadika

www.deradika.de

Salon deRadika wants to dig up the roots of the radical, find what is constructive within it and understand what is destructive about it. Therefor it is traveling around the continent, showing video portraits about uncomfortable Europeans and gathering people at one table for political meals and discussions. What are the roots of radicalism? Is there something radical in each one of us? Don’t we need radical people now more than ever? When does radicalism get constructive, when destructive? Who decides what is positive and what is negative?

So far Salon Deradika was held in Berlin, Sofia, Belfast and at Schloss Akademie Solitude in Stuttgart. From now on the intent is for it to travel on by itself. Therefor the website www.deradika.de implies the ingredients from videos, recipes and stimuli for discussions, so youthclubs, institutions and cultural centers can hold their own salons with their own food and questions.

Text, Schlosspost, 2017

Every morning they wake up

Text by Elisabeth Weydt. It is based on a research about refugees working in the black market in Germany. This research was done with NDR Info radio station. Find the feature at the end of the text.

Photos by Georges Senga. The project is still in progress. It is called Transit and explores the reappropriation of space in a refugee camp in Zimbabwe. Georges plans to go back to the camp in 2017.

Puplished on Schlosspost

On the way to to our meeting point I had to get through pyro flares, water cannon trucks, and police in gear. It was the yearly spectacle of the first of May in the alternative quarters of Hamburg. Labor Day. Demonstration day. Revolution game. A friend had offered his doctor’s office as a hidden and quiet place to meet. Another friend had offered to translate. We had been out in a club the night before. Dancing into May. Now our tired western selves met four shy young men from Burkina Faso who wanted to tell us about their working reality in our country.

Let’s call them Amidou, Toni, Abdul, and Salif. They’ve been in Germany for one, two or four years. Salif, the youngest, 23, was wearing a thin mustache, twirled up at the sides. »We are waiting like hookers on the street, waiting for work,« he said. They giggled. »Like hookers!« It’s their word for what they do. Hookers. Maybe it is easier, when you can make fun of it.

Almost every day they are waiting in a street known for its black labor market in Hamburg. That is where we met them the first time. Many men from Africa are standing there, waiting for someone to pick them up for work. Then they bring them to construction sites, in kitchens, or to load shipping containers with furniture, washing machines, cars. »There are often fights,« Salif says. One day without work can mean a lot. Salif sold his father’s house to get to Europe. Every now and then he can send some money home, he says. But it is not enough, his family says.

The four of them met in a refugee camp in a small town in Sachsen-Anhalt, seven hours by bus from Hamburg. There they have a bed and there they are supposed to live. But they only travel to Sachsen-Anhalt once a month to get their asylum money. »It’s so frustrating there,« Amidou says. »All  we can do is sleep and eat all day long. Sleeping and eating. That drives you crazy. There is nothing, least of all work.« So they rather sleep on mattresses in Hamburg for 150 Euros per month and work on the black market — illegally.

But this work is no good, they say. The bosses know that they have no working visa. »Sometimes we don’t even get a break. Twelve hours in a row we are loading containers for little money. Bosses are insulting us and when we are slow we even get less money,« Toni says. And this is better than being in a town in Sachsen-Anhalt? (This is better than being in Burkina?) I have to ask twice because I don’t understand. The answer is always yes. »At least there is hope to finally find a proper and legal job.« In Germany there is the possibility to work as a refugee but you have to fulfill certain conditions and the process is complicated and long. They changed the law recently, it shall get easier now. But still you have to find someone that gives you work in the first place. Not so easy as a refugee that doesn’t know the language and has no qualification that fits the German system.

They all thought it would be easier in Europe. »In Burkina, TV shows pictures how beautiful and rich Europe is, how beautiful Germany is,« Salif says. »When I tell my parents how I really live here they do not believe me or they say I am not working hard enough.« They’d rather trust TV then their son. But he is not angry with them. Salif would never go back without money. He would be ashamed and lose face, he says. The chances to get asylum in Germany are very very low when you are from Burkina Faso because there is hardly any political persecution. They all know that, but Salif would rather live an illegal life without papers than go back and look into his father’s eyes.

Months later I meet the photographer Georges Senga at Schloss Solitude. I like his work and I like talking to him about things. He is from Lubumbashi, Congo. I tell him about the guys from Burkina. Georges says he doesn’t like it when people say they cannot live in Africa. »I can live in Africa!« Two years ago he started a project called Transit. He visited a refugee camp in Zimbabwe: Tongogara Camp. Many Congolese people are living there. The UN set up some camps during the war in Congo (1998 – 2001). Mostly for people from Rwanda but also Congolese people came. Countries like Australia, the US or Canada offered to take refugees. So people gathered in those camps. The war is over now but there are still people in those camps and there is still hope to get to the developed world one day. Georges wanted to see how people were living there, how they changed their environment in the camps. He wanted to find out what happens when so much time passes but you still do not have something to call a home or a life. How is it to be caught in transit? Similar to the situation of the guys from Burkina in Germany. Georges was doing a research on the reappropriation of space. Most fascinating he found the way people organized themselves. The districts of the camp were called America, Australia or Canada. »I found the cousin of my mum living in America. She told me, if you want to go to the US just stay here with me and wait.« He refused, he can travel the world with his work.

Georges had discussions with some guys from Lubumbashi that’d been living in the camp for years now. They told him they cannot go back there because the city was fucked up, they couldn’t live there, they wouldn’t find work. Security reasons.

»I live there,« he told them. »I don’t have problems.«

»No, you are suffering in Lubumbashi!« the boys said. Georges almost lost his temper »You are living in a refugee camp. How can you say I am suffering in Lubumbashi?« It makes him angry when people say things like that about his city, about his country. »They do not listen to me. They want to live in there illusion of a beautiful live in the western world.« They said he was crazy because he did not take his chance to stay in Europe when he travelled there. He was shocked, he says. »It is disrespectful to all the people living in Congo, to all the people trying to change something. Of course it is not easy. There are big problems. But you cant just say you cant do anything about it.«

 

I have a friend who left his home country Cameroon more than 15 years ago to study in Germany. Now he has a decent job here. He says, he cannot imagine going back to Cameroon because job opportunities there are not the best. »A similar job like here I would most likely not get without corruption or being part of some clique. Maybe with a lot of luck.«

 

This hope to find a better life somewhere else must be so strong. Following the guys from Burkina around for almost four months, this is what I found most astonishing: this never ending hope. Toni once said: »Every morning I get up and of course there are enough reasons to give up, but I always have hope. I am a positive person. Every day I get up anew, I drink my coffee and think to myself: one day the day will come where everything is going to be fine. But is this hope or is this self delusion?« Salif said something similar: »I have to be patient, maybe one day it’s gonna be better.« It was not. The latest news I heard from Salif was that he is to be deported back to Burkina. He didn’t show up and escaped to some friend’s flat in Eastern Germany. Now he is without papers, hiding from police, trying to get money with even shittier jobs than the ones he had in Hamburg. Is it really so much less realistic to hope it is going to be better as a citizen in Burkina than a »Sans-Papier« in Europe?

 

Amidou also got a deportation letter a few weeks after our first meeting on Labour day. He brought it to the dinner we were supposed to have with him, Toni and the friend who knows French and the photographer who set up the first contact. Of course there was no thought in eating in the beginning. We tried to find out what possibilities Amidou had left now, called some friends, searched through the internet. It came clear that there was not much he could do as the date was set for the next morning in Sachsen-Anhalt. It was evening by then and he was in Hamburg. He made the plan to see his lawyer and a doctor who treated him before because of depression very early in the morning. We had dinner and it turned out to be a really funny night. Toni and Amidou made silly plans about what could be done to stay in Germany or to make big business in Burkina.

The next day Amidou’s doctor put him into hospital so deportation was suspended for the moment. His lawyer couldn’t really help him. Amidou still has an unfinished lawsuit because he was married to a German woman, but this was not accepted to give him a permanent residence permit. »Ich bin fertig!« he writes from the hospital. »I am totally exhausted.« He can stay for two weeks, then the doctor tells him to leave. Amidou goes to a friend’s place. Now he also is a »Sans-Papiers.« His family from Burkina is sending him money.

 

I meet Amidou one month after he left the hospital. Still no news from his lawsuit. We buy beer at a kiosk. He doesn’t say much, just answers in two-word-phrases.

»I have to wait, see what is coming.«

»I’m looking for work. I’ll take anything.«

»In the last four years all my working contracts got denied by the government: at a fuel station, at a vegetable store, two times at a hotel.«

»I tried everything, I did everything. No chance.«

»What shall I do? I don’t know. I don’t have any power left.«

This is the last time I see him. We text for another month or so. Then I don’t get any answers anymore.

 

Toni has more luck. He gets a working contract with a cleaning company. Government has to approve it, so he has to go to Sachsen-Anhalt to hand it in. I come with him on the bus. Seven hours.  Through the window we see German landscape passing by. Windmills, wheat fields, small villages. Toni knows that we cross the former border between Western and Eastern Germany. He learned about it in school in Burkina. He would like to stay in this country, if necessary even without papers. He brought his German schoolbook with him. He is not too bad.

In Burkina, Toni had a store for computer and TV sets. The military destroyed it during a demonstration, he says. He contracted debts worth 20.000 Euros to rebuilt everything. Then the debt-collectors came. »They threatened to kill me. They kept coming to my store. Three months left, say said. I stopped going to the store. They threatened my employee. So I sold everything and came to Germany.« His wife left him before that. His four-year old daughter stays at his parents‘ place. Sometimes he sends money home. Sometimes they send photos to his phone. One shows a little girl on a pink tricycle on brown dust. Toni hopes that German government accepts his work contract so he can send more money home.

 

Nima knows what kind of shitty jobs refugees do for a living, or to send money home, or to pay off their smugglers or to bring family members to Europe. He hates that word, but Nima was a refugee himself. He came from Iran to Berlin with his parents when he was 14. They spent three years in a refugee camp. Now Nima is 30 and studying environmental engineering. He never really left the camps, going back and forth to help people living there. He’s been an activist for refugee rights ever since. »Some people really earn a lot of money. They have good networks, know their stuff. But others really get abused. It is easy to abuse them when they work illegally. I heard of people working for days and then they didn’t get payed. People getting threatened. Everything: some got beaten up, thrown out of the store, chased after, and even had their money stolen.«

 

It’s not clear how many refugees are working in the black market. The government only arrests about ten a month all over Germany. Social workers say that cannot be a  reference. Some think almost 50 percent of male refugees work one day or another in the black market. Nima says it’s hard to estimate. »Many of them are very afraid. They don’t talk about that. Not even with their people. They say, I am out in the park, I have an appointment. But I think it is becoming more and more. They are building up networks and help each other to get into black market jobs or even criminal stuff. Just to be able to leave the camps and earn some money.«

 

In a town in Niedersachsen I met the Pakistani Shoukat Ali. He was very round, very small, and very shy. He seemed like he still didn’t really understand what had happened to him. A friend told him there was work in an Indian restaurant. So he went there and they made a contract. The boss told him it is about ten hours a day, 255 Euro per month. The government approved the contract as some kind of an internship. He showed me the contract. It says ten hours per WEEK, not per day. »I didn’t understand,« he says. »I just didn’t know how this is supposed to work here. I just wanted to work so badly. Before that I slept all day long in the camp. That is not good.« He ended up working 60 to 70 hours a week, he says. This means an hourly rate of about 90 Eurocents. »I was not allowed to eat anything in the restaurant. Not even drink tea, just water. The boss always insulted me: I was a bad worker, he said, I didn’t clean properly. Sometimes I missed my last train home, then I had to walk — about two hours.« After five weeks the restaurant owner gave him 255 Euro and said there is no work anymore. »I don’t care about the money,« Shoukat Ali says. »But the way he treated me was really bad. Like slavery. I want a normal legal job. I don’t want to get social money from the government.«

 

That is what all refugees I talked to said about that topic, they all wanted a legal job. It’s just not so easy to get a normal legal job. For Toni it is the second time he tries to get a contract approved. He didn’t think it was so hard to get started in Germany. He is here since two years now. He doesn’t even know if he shall be happy if this contract gets approved now. »I will work more than I earn,« he says. What this means exactly Toni doesn’t want to say. Maybe something like Shoukat Ali’s job? Toni says he got the contract from a friend.

When we arrive in the town Toni is actually supposed to be living, he drops off the contract at the town hall and picks up his monthly money for asylum seekers. About 300 Euros. »If I don’t get the permission to work now this will be bad. Then it would be two years without a proper job and that is not good.« Toni is taking a public transport to his camp. He wants to stay for a while. His room mate is not there at the moment. Probably working somewhere, he says and smiles.

Text, WamS, 2013

Für Buddha und den Punk

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Ihrem Land wurde vor kurzem die Freiheit versprochen, doch der Aktivist und der Musiker trauen der neuen Regierung nicht über den Weg. Mit ihrem je eigenen Set aus Kunst und Politik spielen sie um ihre ganz persönliche Freiheit

Diesmal haben sie ihn erwischt. Auf einer Straße in Rangun haben sie den Aktivisten erkannt, herumgestoßen und ihre Waffen auf ihn gerichtet. Zehn Tage Gefängnis, sieben davon in Einzelhaft. Seit er nun auf Kaution draußen ist, laufen mehrere Verfahren im Wert von insgesamt fast 14 Jahren gegen ihn. In Myanmar darf man jetzt zwar demonstrieren, aber nur wenn man eine Genehmigung dafür hat und Moe Thwei hat nicht immer eine. Dann demonstriert er trotzdem. Schließlich will er sich von der neuen Regierung nicht die Freiheit verbieten lassen.

Vergangenen Winter, als der Aktivist verhaftet wurde, tourte der Musiker mit seiner IndiePunk-Band durch Deutschland. Die Birmanen rockten Clubs in Berlin und Hamburg, sahen den ersten Schnee ihres Lebens und verliebten sich in deutsche Würste und Mädels. Darko schmeckte zum ersten Mal wie sich ein Musikerleben auch anfühlen kann: Bejubelt von einer begeisterten Menge. Zuhause in Myanmar weist eine starre Bürokratie und Kultur die Indie-Szene in enge Schranken. Unzensierte Konzerte darf man dort nun zwar geben. Allerdings nur, wenn man eine Genehmigung dafür hat und Darko hat immer eine. Schließlich will er sich von der neuen Regierung nicht die kleine, gerade gewonnene Freiheit wieder nehmen lassen.

Vor der Revolution von 2007 spielten Moe Thwei und Darko auf den selben Bühnen Ranguns. Über Nirvana konnten sie schon damals stundenlang reden – über das buddhistische, das die absolute Freiheit verspricht, und über die Band aus den USA. Heute trägt der Aktivist ein Nirvana-Tattoo auf dem linken Unterarm, der Musiker hat sich Kurt Cobain lebensgroß ins Wohnzimmer gehängt. Auch wenn sie sie unterschiedlich ausleben: Freiheit beginnt für beide im Kopf. Der Kampf um sie begann 2007, als Militärs auf friedlich demonstrierende Mönche schossen. Bis heute hat er für sie nicht aufgehört.
Mehr als ein halbes Jahrhundert herrschte in Myanmar eine grausame Militärdiktatur, die ihre Menschen für ein falsches Wort jahrelang hinter Gittern vor sich hin rotten lies oder gleich erschoss. Der Aufstand der Mönche änderte nicht unmittelbar etwas daran, doch dann gab es 2010 doch die ersten freien Wahlen. Aung San Su Kyi, die Ikone der Demokratiebewegung, wurde aus ihrem jahrelangen Hausarrest entlassen, Meinungsfreiheit zugelassen, die Zensur aufgehoben und seit ein paar Monaten gibt es nun sogar private Medien. Am Anfang all dieser Reformen hatte die Diktatur angekündigt sich selbst abzuschaffen. Ein weltgeschichtlich ungeheuerlicher Akt, dem viele bis heute nicht trauen. Auch Darko und Moe Thwei nicht.

Moe Thwei, der Aktivist, gründete während der Revolution eine Widerstandsgruppe. Generation Wave heißt sie noch heute. Ihre Waffen gegen die Regierung waren und sind Flugblätter, Demos und Rocksongs, die auch bei der BBC liefen. 27 Mitglieder seiner Gruppe wurden 2007 verhaftet und bis zu fast 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Moe Thwei selbst konnte nach Thailand fliehen. Dort wurde er zum überzeugten Buddhisten, auf der Suche nach der absoluten Freiheit. Jetzt ist er 32, trägt halblange Haare, einen Holzkreisohring, kurze Baggyhosen und T-Shirt. Moe Thwei lebt im Haus seiner Eltern, beide Akademiker. Sie unterstützen ihn in seinem Tun.

Darko ging am Anfang noch mit auf Demonstrationen, hat dann die Freiheit aber immer mehr in der Musik gesucht. Heute lebt er mit seiner Frau zusammen und verdient sein Geld im Yazuna Plaza, einem bienenstockartigen Einkaufszentrum aus acht Etagen und hunderten von Läden. Er ist jetzt 31, trägt kurze Haare, Hemd, Jeans und das Logo seiner Band als Tattoo auf dem linken Unterarm. Meistens lacht oder grinst er. Sein Schneiderladen ist in der dritten Etage in einer Ecke, die von der Luft der Klimaanlage kaum erreicht wird. 2007 beobachtete er hier nervös seinen Freund Moe Thwei bei dessen erster öffentlichen Aktion außerhalb einer öffentlichen Toilette. Moe Thwei warf von der höchsten Balustrade Flugblätter in den Bauch des Plazas und rannte davon. Darko fieberte mit.
Heute kann er Songs veröffentlichen ohne sie vorher von der Zensur überprüfen lassen zu müssen. „Es hat sich was getan, ja. Aber es muss immer noch freier werden.“ Er denkt dabei vor allem an die Bürokratie und die Korruption. In ein paar Tagen will Side Effect ein Konzert spielen, und hat noch immer keine Genehmigung dafür. Seit Wochen rennt Darko schon durch die Behörden, um sämtliche Bescheinigungen, Unterlagen, Zettel und Stempel zusammen zu sammeln. „Reine Schikane.“
Überall, wo er hinkommt wollen sie Geld von ihm, ohne Quittung und „zur Beschleunigung des Prozesses“. Insgesamt knapp 70 Euro, viel Geld in einem Land, dessen Durchschnittseinkommen bei 35 Euro im Monat liegt. Er fühlt sich machtlos. So gerne würde er ihnen das Geld verweigern und Dinge entgegnen wie: „Erst wenn diese Gebühr im Gesetz steht und ich eine Quittung dafür bekomme, dann gebe ich euch das Geld.“ Doch dann muss er an die vielen frustrierenden Erlebnisse im burmesischen Bürokratieautomaten denken und an Kafkas Prozess, nach dessen Hauptfigur sich der zweite Gitarrist von Side Effect, Josef, benannt hat. Also schluckt Darko seine Wut und zahlt. Das Konzert ist wichtiger. „Aber vielleicht, wenn wir Musiker alle nacheinander zu ihnen gehen und ihr Spielchen nicht mitspielen, vielleicht werden sie sich dann ändern.“
Der Musiker will aufbegehren, aber nur soweit wie es seiner Musik nicht schadet. Er geht auf Demos, postet politische Statements auf facebook, aber seine Musik hält er davon frei: „Wir sind keine politische Band.“ Er mache Musik allein für die Musik, sagt er. Trotzdem ist Punk auch in Myanmar eine Protestkultur. Gegen das Establishment und gegen alte Denkschablonen. Darko braucht keine Punkinsignien dafür, aber auf den Straßen Ranguns und auch in mancher Kleinstadt sieht man sie: die bunten Irokesenbürsten, Nietengürtel, Lederjacken. Und immer wieder auch ein Hakenkreuz oder Hitlerkonterfei. „Ach, das sind dumme Kids, die versteh’n das nicht“, sagt Darko. „Die wissen gar nicht was da überhaupt passiert ist. Sie wollen einfach böse sein.“ Und Hitler ist nunmal das Urböse.

Für den Aktivisten liegt die Freiheit in der Politik. Er will echte Bürgerrechte, ein echtes Demonstrationsrecht, bei dem man nicht für unangemeldete Demos verklagt wird. Im Schnitt ist er zweimal pro Woche in irgendeinem Gericht. Für eine Demo, die durch zehn Stadtteile ging, muss er zehn Verfahren bestreiten, jeder Stadtteil hat ihn einzeln angeklagt. Heute aber geht es um eine Demo gegen Menschenrechtsverletzungen im Konflikt zwischen der Regierung und den Kachin, einer ethnischen Minderheit. Mit anderen Angeklagten und den Anwälten sitzt der Aktivist draußen vor dem Gericht auf Plastikhockern, trinkt Pulverkaffee, raucht und diskutiert über Aung San Suu Kyi. Viel halten sie nicht mehr von ihr.
„Vor dem Gefängnis hab ich keine Angst“, Moe Thwei klingt amüsiert. „Das ist hier wie ein Brauch. Wenn du nie im Gefängnis warst, akzeptieren sie dich nicht wirklich als Politiker.“ Er lacht, manchmal findet er sein Land komisch. Sie werden zur Verhandlung gerufen, in einen schimmeligen Raum mit hohen Decken und einem leise flappenden Ventilator. Die Zeugen erscheinen nicht, die Verhandlung wird vertagt. Zum wievielten Mal? Moe Thwei weiß es nicht.
Er glaubt nicht an die neue Regierung. „Sie sind wie David Copperfield. Sie wissen wie man zaubert und trickst.“ Aber seine verhafteten 27 Mitstreiter und viele andere politische Gefangene wurden frei gelassen. Ist Myanmar nicht doch freier geworden?
„Ja, aber nur ein bisschen“, sagt der Aktivist beim Mittagessen mit den anderen fünf jungen Angeklagten. In einem Teehaus gibt es Hühnchen mit Reis und Avokadomilchshake. Einer zieht zum Zahlen das gemeinsame Spesenportemonnaie von Generation Wave hervor. Fast stellt sich ein Klassenfahrtgefühl ein, würde die politische Bildung nicht am eigenen Leib der Teilnehmer durchgeführt. „Das ist immer noch eine Diktatur. Früher haben sie uns mit Waffen unterdrückt, jetzt unterdrücken sie uns mit ihren selbst gemachten Gesetzen.“ Der Aktivist will das ändern und in die Politik. Am liebsten würde er vorher noch einmal nach Deutschland und Philosophie studieren. Heidegger hat es ihm angetan. Die Freiheit. Das Sein. Aber wegen der laufenden Verfahren kann er das Land nicht verlassen.

Darko war schon da, ganz legal ist er durch Deutschland getourt, auf Einladung des Goethe-Instituts. Heidegger ist ihm nicht begegnet, aber viele Fans von Indie-Punk-Musik. „Es war echt exotisch“, sagt er ein paar Monate später in einem Proberaum in Rangun. Doch der Lebensstil in Deutschland hat Darko geschockt: „Immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten. Und irgendwelchen Bedürfnissen und Wünschen hinterherrennen.“ Für ihn eher ein physischer als ein spiritueller Ort. „Die Leute haben überhaupt keine Zeit für Freunde und Familie. Das finde ich irgendwie traurig.“ Vor dem deutschen Gast zieht er entschuldigend die Schultern hoch und zupft an seiner Gitarre herum. In der Fremde hat er gemerkt, dass er sein Land eigentlich doch ganz ok findet, auch wenn er immer wieder mit ihm kämpft.
Im Proberaum sind alle barfuß. Ein Dutzend FlipFlops stehen im Vorraum vor einer mintgrünen Wand, direkt unter dem Buddha Schrein und neben der Tafel mit dem Zeitplan für die verschiedenen Bands. Vor ihnen waren Shock Wave dran. Danach kommen The Hell. Der Schlagzeuger von Side Effect, The Thoo, drischt schon euphorisch auf die Drums ein. Er will jede Minute hier nutzen. Sie können sich nur zwei bis drei Stunden Probe pro Woche leisten und zu Hause hat er kein Schlagzeug.
Die Nacht zuvor konnte Darko nicht schlafen. „Manchmal frage ich mich schon, was wir hier eigentlich machen. Sind wir wirklich gut?“ Er probiert seine Stimme am Mikrophon aus. „Und wer bin ich überhaupt? Bin ich der Typ aus dem Schneiderladen oder bin ich der Musiker?“ Myanmar ist nicht das beste Land für IndiePunk. Der musikalische Mainstream besteht aus schnulzigen Coversongs und die Subkultur hat strenge Geschmackskategorien. Entweder man ist Punk oder Metaller oder Hiphoper. Da hat man es schwer als Musiker, der nicht in Schubladen denken will. „Wir wollen, dass die Leute wieder selber denken und nicht irgendwem oder irgendwas stumpf hinterher rennen. Aber selber denken, war Jahrzehnte lang verboten in Myanmar.“ Darkos großer Traum ist es, eine Bar aufzumachen, in die kommen kann, wer will. In der spielen kann, wer will und in der man reden kann, worüber man will.
Er muss los. Besondere Basssaiten sind aus New York eingetroffen und der Bote nur für einen Tag in Rangun. Eigentlich wollte der Musiker heute Nachmittag zusammen mit dem Aktivisten auf eine Gedenkfeier gehen, die an demonstrierende Studenten erinnert, die von Soldaten erschossen wurden. Doch die Basssaiten sind jetzt wichtiger.

Der Aktivist geht alleine zur Gedenkfeier. In dem Park, neben der Brücke, durch die vor 25 Jahren das Blut der Studenten floss, sind schon ein paar hundert Leute. Um sie herum stehen Schaulustige, unter ihnen circa 20 Männer in dunklen Hemden und Hosen, die alles fotografieren. „Ach, das ist der Geheimdienst“, winkt Moe Thwei ab. „Die versuchen uns einzuschüchtern, aber sie können uns nichts.“ Die Gedenkfeier ist angemeldet. „Wir machen das hier, damit die Menschen nicht vergessen zu was Regierungen fähig sind, besonders birmanische Regierungen.“
Am Abend treffen sich der Aktivist und der Musiker dann doch noch. In der 21ten Straße in China-Town. Auch die anderen Jungs von „Side Effect“ sind gekommen. Die 21te Straße flirrt. Sie scheint nur aus Restaurants zu bestehen. Überall sind Menschen. Es gibt Bier und Grillspieße. Hier treffen sich die Intellektuellen, die Künstler und die wenigen Minirockträgerinnen der Stadt.
Der Musiker bestellt Bier, der Aktivist einen Erdbeermilchshake. Sie erzählen sich von ihrem Tag. Darko wäre wirklich gerne zur Gedenkfeier gekommen, aber nun ja, die Basssaiten. Moe Thwei erzählt, dass er bald wieder eine Band gründen will. Die ersten Songs hat er schon geschrieben und eins davon neulich sogar mit Iron Cross, einer der bekanntesten Rockbands Myanmars, aufgenommen. Jetzt sucht er langsam nach Musikern. „Ja, Mann! Dann können wir endlich mal wieder zusammen spielen“, Darko berührt ihn freundschaftlich an der Schulter.
Der Aktivist verabschiedet sich. Er ist müde. Darko zieht mit seinen Leuten weiter. Doch da gibt es in Rangun nicht viele Möglichkeiten, nachts um halb 12. Die meisten Läden haben schon zu. Also gehen sie mit ein paar Dosen Bier zu einem See der Stadt, ziemlich genau an die Stelle, an der der Aktivist heute Mittag eine Rose niedergelegt hat. Das Ranguner Nachtleben ist spärlich und teuer für kleine Geldbeutel.
Der Musiker blickt auf die rote Brücke. „Während der Revolution, da hab ich mir auch überlegt in den politischen Widerstand zu gehen. Aber dann dacht ich mir, das ist doch sinnlos. Sie erschießen dich und dann kannst du gar nichts mehr machen.“
Mittlerweile ist die Wahrscheinlichkeit erschossen zu werden ziemlich gering in Myanmar, Gründe für die Freiheit zu kämpfen aber gibt es noch genügend.

Enorm, Text, 2012

Die Gewerkschaft

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In Bolivien kümmern sich die Kinder um die Toten. Sie gießen ihre Blumen, ziehen ihre Namensinschriften nach und polieren die Glasscheibe vor ihrer Grabnische. Oft beten die Kinder auch für ihre Klienten. Dann falten sie ihre kleinen Hände, blicken andächtig gen Himmel und rattern ein Ave Maria herunter.

In Bolivien heißt es, Kinder hätten eine besondere Verbindung zu Gott: Sie seien noch nicht so lange auf dieser Erde, die einen verdirbt, und deshalb noch näher an der Unschuld. Und so lungern schon Vierjährige an Friedhofstoren herum, um ihre Dienste anzubieten. Der direkte Draht zu Gott bringt ihnen sieben Bolivianos ein, 70 Cent. Das Rundum-Paket inklusive Grabsäuberung das Doppelte. Davon kann man sich dann sieben Empanadas kaufen und die machen erst mal satt.

Doch heute ist nicht viel los auf dem Friedhof der Silberminenstadt Potosí in den bolivianischen Anden, 4000 Meter über dem Meeresspiegel. Cristina lümmelt in einem abgewetzten, dunkelroten Ledersessel, der wie ein ausrangierter Thron im Schatten neben dem Eingang steht. Gleich muss die 15-Jährige zu einer Beerdigung, eilig hat sie es aber nicht. Mit den Beinen über der Armlehne grinst sie ihre fleißigere Freundin Jovanna an. Die ruft den Besuchern wie eine Beschwörungsformel ihr Angebot entgegen: »Grab sauber machen, Blumen pflegen, Blumen gießen!«

Im ärmsten Land Südamerikas sind die kleinen Arbeiter selbstverständliche Protagonisten des Alltags. Fast eine Million von ihnen gibt es, bei nur 10 Millionen Einwohnern. Auf dem Land ernten sie Zuckerrohr, im Supermarkt packen sie Einkäufe in Plastiktüten. Sie halten den Haushalt sauber und kümmern sich um die noch Jüngeren.

Cristina arbeitet, seitdem sie zehn ist. Erst in einem China-Restaurant, jetzt auf dem Friedhof. Wenn sie lacht, blitzt in ihrem ansonsten ebenmäßigen, indianisch anmutenden Gesicht eine kleine Lücke auf: Ihr rechter Schneidezahn ist abgebrochen. Sie versucht das zu verbergen, doch meistens ist ihr Lachen stärker.

Lehrerin möchte sie einmal werden, oder Touristin. Da könne man die Welt sehen. Bisher war sie noch nicht einmal im zwei Stunden entfernten Sucre, das Reiseführer als die beeindruckendste Kolonialstadt Südamerikas anpreisen. Keine Zeit, kein Geld

Vor acht Jahren starb Cristinas Mutter. Ihr Vater fand schnell eine neue Frau und verlor das Interesse an seinen ersten Kindern. Die drei Geschwister leben in einem Raum mit zwei Betten, einem Schrank, einem Tisch und zwei Herdplatten. Die Toilette ist auf dem Hof, genauso wie der einzige Wasserhahn. Hin und wieder schaut der Vater vorbei, aber meistens gibt es dann nur Geschrei, manchmal Schläge, nur selten Geld.

Die Geschwister sind stolz, dass sie ihr Leben allein organisieren, arbeiten und zur Schule gehen. Sie sind stolz auf ihr verdientes Geld und das Pippi-Langstrumpfhafte Dasein. Das sagen sie zumindest, und man glaubt es ihnen. Aber ihre erwachsenen Augen und ihre Behausung verraten, dass es hier nicht oft um »Widewidewid-Bummbumm« geht.

Die Arbeit der Kinder ist für viele Familien überlebenswichtig. Aber sie ist illegal, genau wie die Kinderarbeiter selbst. Und wer illegal ist, der hat keine Rechte, über den kann man verfügen, der wird ausgebeutet und allein gelassen. Die Kunden und Arbeitgeber bezahlen die Kinder häufig nicht und misshandeln sie.

Damit solche Fälle vor Gericht landen, haben die Kinder in Bolivien eine Gewerkschaft gegründet. Zu Tausenden kämpfen sie für ihre Anerkennung und ihr Recht auf Arbeit.

Und sie kämpfen gegen die westliche Konvention, die besagt, dass Kinder keine Arbeit verrichten dürfen. In den Millenniumszielen der Vereinten Nationen ist die allgemeine Schulbildung fest verankert, und das Verbot von Kinderarbeit gilt als wichtigster Schritt, um dieses Ziel zu erreichen. Dass immer noch mehr als 200 Millionen Kinder weltweit arbeiten, ist für Bürger, Politiker, Nichtregierungsorganisationen, Spender und Medien ein nicht hinnehmbares Versagen der Weltgesellschaft und genauso zu verurteilen wie Streubomben oder Tierquälerei.
Cristina und die anderen Kinder glauben allerdings nicht an die guten Worte. Zu wenig hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. Immer noch muss ein Drittel aller Bolivianer von zwei Dollar am Tag leben. »Verbote helfen uns nicht«, sagen sie. »Zuerst sollen die Erwachsenen die Armut und den Hunger abschaffen. Und dann die Kinderarbeit!«

UNATSBO, ihre Union, hat schon einiges erreicht. Als erstes Land der Welt strich Bolivien den Passus »Kinderarbeit ist verboten« aus der Verfassung. Stattdessen heißt es nun: »Die Ausbeutung von Kindern ist verboten.«

Doch was das tatsächlich bedeutet, wird erst in den kommenden Monaten im neuen Arbeitsgesetz Boliviens festgeschrieben. Und da wollen die Kinder mitreden. Sie haben einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der in das neue Regelwerk einfließen soll. 130 Seiten umfasst ihr Papier, 2500 Kinderarbeiter aus dem ganzen Land haben ihre Wünsche eingebracht.

Die Beerdigungsgesellschaft ist eingetroffen. Ein schwarzer Cadillac schiebt sich langsam, mit röhrendem Motor durch das große eiserne Tor und die Einfahrtsrampe hinunter. Im offenen Kofferraum der Sarg, dahinter die Trauernden in Schwarz.

Cristina trägt einen roten Trainingsanzug und darüber ihre rote Hello-Kitty-Tasche, in der sie die Putz- und Malutensilien aufbewahrt. Sie schwingt sich auf den Beifahrersitz, scherzt mit dem Fahrer und legt den Arm auf den Fensterrahmen als ginge es gleich zur Strandpromenade.
Andächtiger ist sie dann am offenen Grab, das in der Wand aus hunderten von beblümten Grabnischen als schwarzes Loch ins Nichts klafft. Auf einer Leiter stehend malt sie in drei Metern Höhe den Namen des Verstorbenen auf seinen Quadratmeter Erinnerung. Die Angehörigen schluchzen zu ihr hinauf.

Ein paar Gänge weiter liegt Cristinas Mutter begraben, noch ein paar Gänge weiter ihr älterer Bruder. Er war einer der Kindergewerkschaftsführer in Potosí. Im vergangenen Jahr hat er sich umgebracht. Warum, darüber mag keiner reden. Er hat Cristina immer zu den Gewerkschaftsversammlungen und Aktionen mitgenommen. Jetzt will sie ihm bei den Wahlen im nächsten Jahr nacheifern und für eine Führungsposition kandidieren.

Kindergewerkschaften gibt es auch in Asien, Afrika und in neun weiteren latein- amerikanischen Ländern. In Bolivien hat die Dachorganisation UNATSBO in allen größeren Städten eine Regionalgruppe. CONATSOP, die Gruppe in Potosí, ist die älteste und stärkste des Landes. Nur eine Handvoll Minenkinder hat sie in den 90er Jahren gegründet, mittlerweile vertritt CONATSOP rund 850 Kinderarbeiter. Die Mitglieder sind in 21 Untergremien organisiert: die Marktverkäuferinnen, die Minenarbeiter, die Hausangestellten, die Zeitungsverkäufer.
Heute ist Samstag, und wie jeden Samstag ist Gewerkschaftsversammlung. Unter Neonlicht sitzen rund 30 Kinder und Jugendliche auf den wenigen Stühlen ihres kleinen Versammlungsraums, auf den drei Schreibtischen oder auf dem Boden. Die Schuhputzer hocken auf ihren Putzboxen. Sie kommen direkt von der Arbeit. Cristina war nach der Beerdigung noch kurz zu Hause, Haare waschen.

Diana ist elf Jahre alt und Küchenhilfe im Restaurant ihrer Großmutter. Sie liest das Protokoll der letzten Versammlung und die Tagesordnung vor, doch die Schuhputzerjungs albern herum und ziehen sich gegenseitig die Boxen unterm Hintern weg. »Klappe halten!« Diana hat ein sehr lautes Organ. Es ist still.

Der Tag des Kindes steht an. Ein offizieller Feiertag für alle Kinder und eine gute Gelegenheit, um die Leute für ihre Sache zu gewinnen. Sie werden einen Informationsstand auf dem Rathausplatz aufbauen. Cristina soll sich um die Plakate kümmern, andere Gruppenmitglieder organisieren die Musik, Spiele soll es geben und etwas zu trinken und zu essen.
Tagesordnungspunkt zwei: Guillermo berichtet von seinem Treffen mit den Vertretern aller lateinamerikanischen Kindergewerkschaften am letzten Wochenende in La Paz, 500 Kilometer weiter nördlich. Es ging um eine gemeinsame Strategie.

Der 17-Jährige ist der oberste Kindergewerkschafter Boliviens, aber der schmächtige Junge redet, als müsste er jedes Wort durch den Kehlkopf an die Öffentlichkeit schubsen. Das Schweißarmband mit dem Totenkopf und die stark gegelten Haare scheint er zu tragen, um sich selbst Mut zu machen. Er arbeitet seit er sieben ist. Seine Jobs haben ihn bis zum Ingenieursstudium getragen, das er kürzlich begonnen hat.

Cristina würde gerne einmal auf so ein internationales Treffen fahren und dann nicht nur nach La Paz, sondern gleich auf eine der internationalen Konferenzen, die die lateinamerikanischen Kindergewerkschaften regelmäßig abhalten. Ihr würde zwar ein wenig davor grauen, unter so vielen Fremden in einem fremden Land, »aber vor Jahren war ich so was von schüchtern. Ich hätte mich nie getraut, vor Leuten zu reden.« Jetzt soll sie am Tag des Kindes Fremden die Gewerkschaftsforderungen erläutern. »Die Gewerkschaft hat mir Mut gegeben, Luz hat mir Mut gegeben.«

Luz, das ist Luz Rivera, eine kleine mollige Frau, die seit zehn Jahren mit den Kindergewerkschaftlern arbeitet. Für sie ist die Sozialarbeiterin Ersatzmutter, Nachhilfelehrerin und Ansporn in einem. Auf den Versammlungen sorgt sie regelmäßig für Ruhe und Struktur, oft auch in ihrem Leben. Luz’ Stelle ermöglichen Terres des Hommes und die Caritas. Wenige Nicht-Regierungsorganisationen wagen, sich für das heikle Thema zu engagieren. Denn auch würdige Kinderarbeit bleibt Kinderarbeit und damit ein Tabu: Sie könnte die Spender verschrecken.

Die NGOs, die offener sind, helfen mit Ratschlägen, Kontakten und Geld. Viel ist es nicht. Der Gruppe in Potosí bleiben jährlich gerade mal 400 Euro für Busfahrten, Telefonate, Internet und den Proviant am Tag des Kindes. Trotzdem ist es ihnen wichtig, unabhängig zu bleiben.
Einmal wollte ihnen ein privater Spender zu viele Punkte ihrer Tagesordnung diktieren, da sagten sie ihm: »Nimm dein vieles Geld und geh!« Am Ende entschuldigte er sich für sein Verhalten, durfte bleiben und mit ihm seine 30.000 Euro, die sie nutzten, um ein neues Versammlungshäuschen zu bauen.

Das fehlende Geld ist nicht das einzige Problem. »Viele Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder so viel Zeit in der Gewerkschaft verbringen«, sagt Luz. Sie dächten, dass die Hausarbeit und die Schule darunter litten. Einige hätten auch Angst, dass die Kinder bei den abendlichen Treffen Alkohol und Drogen konsumieren oder zum Sex verführt werden. Immer wieder verbieten Eltern ihren Kindern die Teilnahme an den Versammlungen, selbst den Gewerkschaftsführern. Die Revolution krankt auch am Hausarrest.

Luz sagt: »Die Leute und eben auch die Kinder müssen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können, dafür brauchen sie Freiraum und Werkzeuge.« Fürsorgliche und meist befristete Wohlfahrtsprojekte von NGOs seien nutzlos. Bei fast einer Million Kinderarbeitern sind solche Projekte ein Tropfen auf den heißen Stein, und selbst den Familien, die sie erreichen, können sie nicht dauerhaft helfen. Für einen gewissen Zeitraum erhalten die zwar Nahrungsmittel und Unterrichtsmaterialien. Doch wenn die Programme ausgelaufen sind, müssen die Kinder meist wieder arbeiten. »Und dann? Dann haben sie nicht einmal mehr einen Job!«

Über UNICEF und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) kann sich Luz in Rage reden. »Seit zehn Jahren kämpft Bolivien nun gegen Kinderarbeit und nichts hat sich geändert. Im Gegenteil, die Lage ist noch schlimmer geworden.«

Ein Werkzeug, an das alle glauben, ist die Bildung. Ein Viertel ihrer Einnahmen geben die Kinderarbeiter im Schnitt für Hefte und Schuluniformen aus. Sie fehlen zwar häufiger im Unterricht, ihre Leistungen sind aber nur geringfügig schlechter als die der nichtarbeitenden Schüler.

Wenn Cristina über ihre Zukunft spricht, sagt sie die Formeln »etwas lernen« und »einen Abschluss machen« wie ein Mantra auf. In der Schule sitzt sie ganz vorne, ihre Hausaufgaben schreibt sie in einem Haushalt ohne Schreibtisch und Rückzugsraum in ein Heft ohne Eselsohren.

Für Alvaro, 16, Sprecher der minderjährigen Minenarbeiter, ist die Bildung sogar wichtiger als die Gesundheit. Er hat warme Augen, hohe Wangenknochen und eine ruhige Stimme. Durch eine schlammige Rinne watet er hinein in den dunklen Gang einer Silbermine. Im diffusen Licht der Stirnlampe wirkt er noch knochiger als bei Tageslicht. Wenn er stehenbleibt, um sich zu orientieren, ist es so still wie in einer leeren Kathedrale. »Als ob du dich von allem da draußen verabschiedest.«

Er setzt den Pickel an und beginnt, den Stein zu bearbeiten. Immer im gleichen Rhythmus, stundenlang. Natürlich, sagt er, würde er lieber einen anderen Job haben, Schuhe putzen zum Beispiel. Aber dann müsste er viel mehr arbeiten, um aufs selbe Geld zu kommen, und er würde das Lernpensum fürs Gymnasium nicht mehr schaffen. Ingenieur möchte er werden. Bis dahin arbeitet er hier, jedes Wochenende und in den Ferien. Um durchzuhalten, kaut er vor jedem Gang in die Dunkelheit Koka-Blätter.

Seinen Opa, einen Onkel und zwei Freunde hat er bereits in der Mine verloren. Trotzdem sagt er, die Arbeit habe ihn zu einem besseren Menschen gemacht, sie hätte ihn stark gemacht. Er hätte gelernt zu teilen, Verantwortung zu übernehmen.

In der andinen Kultur Boliviens verbindet man mit dem Konzept Arbeit nicht Schweiß, Quälerei und Pflicht, sondern Gemeinschaft, Austausch und Charakterbildung. Die heutigen Bedingungen lassen dafür kaum Raum. Kinder, die in Fabriken im Akkord schuften und ausgebeutet werden, lernen nur wenig über Eigenverantwortung und Gemeinschaftssinn. Und es gibt tausende, denen es so ergeht.

Neben der Verfassungsänderung konnte die Gewerkschaft auch im Kleinen etwas erreichen. In Potosí setzte sie sich für die Zeitungsjungen ein und überzeugte den Chef, mehr Lohn zu zahlen. In Cochabamba bewegte sie die Stadt dazu, Arbeitsausweise an die Kinder zu verteilen, also als legitime Arbeiter anzuerkennen. Seitdem werden die Kinder nicht mehr so schnell vertrieben oder hintergangen.

Durch ihre Mitwirkung am geplanten Arbeitsgesetz erhoffen sie sich jetzt den ganz großen Wurf. Ein Anwalt und mehrere NGOs haben ihnen beim Formulieren geholfen. Cristinas dringlichster Wunsch ist der Respekt vor ihr und ihrer Arbeit. »Viele denken, unsere Arbeit ist etwas Schlechtes. Sie denken, wir sind alle Diebe, trinken Alkohol und schnüffeln Klebstoff. Das stimmt nicht.«

Der Tag des Kindes ist schneller gekommen als die Vorbereitungen abgeschlossen sind. Wo ist denn das Klebeband? Wer sollte noch mal die Schnur mitbringen? Der Informationsstand will einfach nicht stehen bleiben. Links präsentiert sich schon vorbildlich ein SOS Kinderdorf. Cristina hält gelbe Plakate mit Infos und Fotos unterm Arm. Die Wand zum Aufhängen ist noch nicht aufgebaut. An ihr vorbei hetzen die Gewerkschaftsführer. Der Stadtrat hat sie eingeladen, er will ihnen eine Anerkennungsurkunde verleihen. Darin steht, dass Potosí nun immer am 9. Dezember den Tag der Würde der Kinderarbeit feiert und mit den Kindern über mögliche Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen sprechen will. Ein Erfolg.

Im Laufe des Tages verbreitet sich, was Präsident Evo Morales in seiner Rede zum Tag des Kindes gesagt hat. Er sei stolz, selbst ein Kinderarbeiter gewesen zu sein, verkündet er, Kinderarbeiter würden ihren Familien und ihrem Land einen großen Dienst erweisen.
Luz Rivera hat eine Idee: Guillermo könnte doch einen offenen Brief an den Präsidenten schreiben, um die Diskussion auf die höchste politische Ebene zu bringen. Am Abend setzt der Junge sich an den alten Computer der Gewerkschaft und starrt auf den leeren Bildschirm. Was schreibt man seinem Präsidenten? Er beginnt mit einem »revolutionären Gruß«, auch wenn er Morales’ Politik sonst nicht schätzt, und schreibt: »Die Realität dieses Landes zwingt uns nun mal zu arbeiten, denn die Wirtschaft kommt nicht voran.« Dann bittet er höflich um Unterstützung für ihren Gesetzentwurf.

Der Gruppe in Cochabamba ist das zu wenig. Sie fordert mehr Aggressivität von ihrem Führer. Der Brief wird hin- und hergeschickt, fünf Tage lang. Dann geht er raus an den Präsidenten, mehrere Abgeordnete und die Zeitungen.

Die Aufregung ist groß. Guillermo rechnet eigentlich jederzeit damit, den Präsidenten am Handy zu haben. Doch der Präsident hat derzeit andere Sorgen. Sein Land wird von mehreren Streiks fast lahmgelegt. Er ruft nicht an. Die Politiker und Zeitungen auch nicht.

Sucht man nach Boliviens politischer Linie zum Thema Kinderarbeit, stöß man auf Widersprüche und Ratlosigkeit. Im Arbeitsministerium erzählt die Beauftragte zur Abschaffung von Kinderarbeit, dass man sich durchaus vorstellen könnte, Kinderarbeit unter bestimmten Bedingungen zu legalisieren. Die internationalen Abkommen, die Bolivien zu ihrer Abschaffung unterzeichnet hat, könne man ja wieder auflösen.

Die Präsidentin der Kommission hingegen, die das neue Arbeitsgesetz entwirft, sieht ihr Land in der Pflicht, die Abkommen zu erfüllen. »Kinderarbeit ist Gewalt am Kind«, sagt sie, und dass sie absolut gegen eine Legalisierung ist. Aber sie weiß, dass auch das Verbot nicht hilft: »Was wir wollen, ist eine Sache. Eine andere ist die Realität Boliviens. Tausende Kinder arbeiten, und wenn wir ihnen die Arbeit nehmen, nehmen wir ihnen die Möglichkeit zu leben, zu essen und sich zu bilden.«

Auch die Internationale Arbeitsorganisation ist gegen eine Legalisierung. Dann aber erzählt die zuständige Dame in der bolivianischen Vertretung von ihrer 13-jährigen Tochter, die im Sommer im Ferienlager als Schwimmlehrerin gearbeitet hat. Ähnliches hört man von erwachsenen Gewerkschaftlern, in Stadtverwaltungen und im Büro einer Minengesellschaft, die Kinder beschäftigt.

Doch die kleinen Gewerkschafter haben ein noch grundlegenderes Problem. Nur wenige Politiker wissen überhaupt, dass die Kinderarbeiter einen eigenen Entwurf formuliert haben. Selbst die Präsidentin der Gesetzgebungskommission kennt das Papier nicht.

Guillermo sagt, Evo Morales habe vor einem Jahr einen Großteil der politischen Riege ausgetauscht. »Seitdem sind wir einfach noch nicht dazu gekommen, den Gesetzentwurf an die neuen Politiker zu schicken. Das kostet ja auch Geld.«

Viel Zeit bleibt nicht. Bald wird über das neue Arbeitsgesetz entschieden.

Immerhin konnte Guillermo mal wieder den Gewerkschaftsverband COB auf die Belange der Kinder aufmerksam machen. Dem zuständigen Funktionär hat er die Zusage abgetrotzt, am Tag der Arbeit zusammen mit den erwachsenen Arbeitern zu marschieren. Es ist das erste Mal, dass sie an der großen Demonstration teilnehmen dürfen. »In solch schweren Zeiten müssen wir uns alle vereinigen«, erklärte der Mann. »Aber nur die, die älter sind als 14, nicht die ganz Kleinen.«
Jetzt stehen sie auf dem Platz der Minenarbeiter, es ist zwei Uhr. So haben sie es vor zehn Tagen ausgemacht. Doch niemand sonst ist gekommen. Cristina stützt sich auf den Holzstab, der den grünen Wimpel der Kindergewerkschaft trägt, Alvaro kickt Steine durch die Gegend. In Bolivien wartet man oft. Und in zehn Tagen kann sich viel ändern: »War nicht gestern Abend schon so eine große Demonstration?«, fragt einer. »Nein, das kann doch nicht sein!«

Luz ist wütend und empört. Sie wurden versetzt. Der Termin für die Demonstration wurde geändert und niemand hat ihnen Bescheid gesagt. Mit hängenden Fahnen marschieren sie zum neuen Versammlungshaus, in dem am Abend die Party zum Tag der Arbeit steigen soll. »Wir haben eine Chance verpasst«, sagt Cristina. Die Genossen in Cochabamba sind mit der COB marschiert.

In Potosí ist die Enttäuschung bis zum Abend verflogen. Cristina tanzt. Ihre Klamotten, die sie heute Morgen ausgewählt hat, passen ohnehin besser zu der Party als zur Revolution.

Alvaro tanzt. Guillermo tanzt. Diana, die sonst die Tagesordnung immer so resolut vorliest, tanzt.

Unter buntem, kreisenden Licht und einem Plakat, das einen fröhlichen Tag der Arbeit wünscht, sind sie bis spät in die Nacht hinein einmal nicht Minenarbeiter, Küchenhilfen, Schuhputzer oder Marktverkäuferinnen. Sie sind ausgelassen.

Crismon, Text, 2012

Tag am Meer

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Israelische Frauen laden palästinensische Kinder an den Strand von Tel Aviv ein. Einen Tag lang schwimmen, planschen, Burgen bauen. Abends müssen sie wieder zurück in das Land, das die Israelis eingemauert haben. Ist das jetzt nett – oder zynisch? Eine Geschichte zwischen Gischt und Tränengas

Für einen Tag könnte ihre Welt so friedlich aussehen: Quietschend vor Vergnügen könnten die Kinder von Nabi Saleh in die Gischt des Mittelmeers stürmen. Johlend würden sie sich um die Schwimmreifen balgen und am Ende des Tages aus rotgeränderten Augen auf die Weite des Wassers blicken.

Doch die Menschen von Nabi Saleh sind dagegen. »Das sieht zu friedlich aus, zu idyllisch«, sagen sie. Von ihrem Dorf bis ans Meer sind es nur 30 Kilometer. Aber dazwischen steht der Grenzzaun, der das Westjordanland und Israel voneinander trennt. Für die Leute in Nabi Saleh ist der Tag am Strand, den israelische Frauen für ihre Kinder organisieren, ein Affront. »Als würden wir akzeptieren, dass Israel uns das Meer verbietet und uns nur nach aufwendigen Genehmigungsprozeduren einmal den großen Zeh hineinhängen lässt.« Als würden sie sich eine gute Besatzung wünschen. Aber sie wollen keine gute Besatzung, sie wollen gar keine Besatzung.

Einige Kilometer südlich von Nabi Saleh, ebenfalls im Westjordanland, liegt Ni’lin. Hier fahren die Kinder ans Meer. Ihre Eltern finden nichts Verwerfliches an der Einladung der Israelinnen. Sie meinen: »Palästinenser zusammen mit Israelis im Meer, das ist die richtige Botschaft für die Welt: Ein friedliches Zusammenleben ist möglich.«

Seit zwei Jahren organisieren vier israelische Frauen für palästinensische Kinder Tage am Meer. 2011 waren es 20 Ausflüge, an denen insgesamt 900 Kinder und ihre Begleitpersonen teilnahmen. Die Frauen wollen den Kindern einen unbeschwerten Tag am Meer ermöglichen. Ihnen zeigen, dass es auch Israelis gibt, die nicht Soldaten oder Siedler sind.

»Was wollen die mit unserem trockenen Land?«

Muhamed Ameera, Lehrer an der Schule von Ni’lin, schätzt den guten Willen der Israelinnen. »Wir freuen uns immer sehr, wenn wir auf der anderen Seite Leute finden, die an unsere Rechte glauben und friedlich mit Palästinensern leben wollen.« Mit seinem alten Auto fährt er 30 Kilometer nördlich von Ramallah die Staubstraßen Ni’lins ab. Er verteilt 58 Reiseerlaubnisse unter den rund 5000 Einwohnern. In der Familie, von der er gerade kommt, flossen Tränen. Zwei der Kinder können mitfahren, zwei nicht. Die isralischen Behörden genehmigten nur die Anträge der beiden Jüngsten. »Es ist immer besser, fünf Kindern eine Freude zu machen als keinem«, meint Muhamed.

»Wenn du in der Wüste durstig bist, dann solltest du trinken. Es kommt nicht darauf an, wer dir das Wasser gibt«, sagt Muhamed Ameera. Der Tag am Meer sei ein Angebot, was die Leute daraus machten, ihre Sache. Auf manche werde sich der Ausflug positiv auswirken, auf manche vielleicht negativ. Im vergangenen Jahr kamen einige Mütter vom Meer zurück und waren ganz erstaunt, berichtet Muhamed: »Wenn Israel so schön ist, wenn sie Tel Aviv und das Meer haben: Was wollen die dann mit unserem trockenen Land?«

Muhameds Land konfiszierten die Israelis 2004, noch vor dem Bau der Mauer. Es gehört jetzt zu einer Siedlung. Die Oliven von den Bäumen auf der ein Hektar großen Fläche erntet nun ein Siedler, die Schafe, die darunter grasen, sind nicht mehr seine. In Ni’lin verloren so 124 Familien ihr Land. Mittlerweile sind nach einem Bericht der israelischen Menschenrechtsorganisation Btselem 40 Prozent des Westjordanlands unter der Kontrolle von Siedlern. 2008 wurde die Mauer gebaut, sie trennte die Menschen von Ni’lin für immer von ihren Bäumen. Sie hatten protestiert. Sie stellten sich vor die Bulldozer, hielten sich an den Bäumen fest. Friedlich wollten sie protestieren, nach dem Vorbild von Gandhi und Nelson Mandela.

Fünf Tote hat es seitdem in dem Dorf gegeben, gestorben an den Verletzungen von Gummi- und Tränengasgeschossen. Es gab Ausgangssperren und Tausende Verhaftungen. Die Ni’liner demonstrieren noch immer jeden Freitag. Es sind nicht mehr so viele Teilnehmer, und es fliegen nicht mehr so viele Tränengasgeschosse. Aber sie wollen ihr Land zurück, 40 Prozent der ursprünglichen Fläche sind das für ganz Ni’lin. Muhamed gehört zum Volkskomitee, das die Proteste organisiert. Kürzlich ist er wieder bei einer Demonstration verhaftet worden: eine Woche Gefängnis und 600 Euro Strafe. Muhamed sagt, er habe friedlich demonstriert, das Militär sagt, er würde die Leute aufwiegeln.

Die Ni’liner vertrauen dem Lehrer. An den Türen empfangen ihn Kinder mit strahlen¬den Gesichtern und Erwachsene mit einladenden Gesten. »Muhamed, Muhamed, nimmst du mich mit ans Meer?« In einem Haus versteckt ein wütendes Mädchen, das nicht mitdurfte, das Tagesvisum ihrer Mutter. Die Aufregung ist groß, doch Muhamed kann vermitteln, und die Bescheinigung taucht im Kühlschrank wieder auf.

An die Grenzen seiner Vermittlungsfähigkeit stößt er jedoch, wenn er seinen vier Kindern die Situation erklären soll. »Es bringt mich immer in Verlegenheit, wenn sie mir Fragen stellen.« Warum gehört ihr früheres Land jetzt einem Siedler? Was soll er dazu sagen? Er will keinen Hass in sie pflanzen. Er will ihnen vermitteln, wie wichtig es sei, ohne Gewalt zu protestieren und mit der anderen Seite zusammenzuarbeiten. Initiativen wie der Tag am Meer könnten eine Möglichkeit sein.

Katz- und Maus-Spiel im Westjordanland

Die Menschen von Nabi Saleh sehen darin keine Möglichkeit, sondern eine Zumutung. In ihrem Dorf ist der Protest gegen die Besatzung allgegenwärtig. Jeden Freitag demonstrieren viele der 500 Einwohner gegen die Landnahme durch die angrenzende Siedlung und gegen die Besatzung überhaupt. Die israelische Armee antwortet mit Tränengasgeschossen. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Demonstranten und Soldaten hat vor einigen Wochen ein erstes Todesopfer in dem Dorf gefordert. Der 28-jährige Mustafa Tamimi starb, weil ihm ein Soldat aus kurzer Entfernung eine Tränengaskartusche ins Gesicht geschossen hatte. Zuvor hatte Tamimi einen gepanzerten Jeep mit Steinen beworfen.

Jede Woche Tränengas. »Da fahre ich doch nicht mit denen ans Meer!«, sagt ein Vater. Die Empörung grollt aus seinem Bauch heraus. »Ich will dieselben Rechte wie der Siedler da drüben, der jetzt auf meinem Land wohnt. Ich will ans Meer fahren, wann und wie mir das passt. Und nicht durch die Gnade von irgendeinem Israeli.«

In Nabi Saleh teilen angeblich alle diese Meinung. Immerhin teilen sich hier auch alle einen Nachnamen: Tamimi. Man hält zusammen. Es gibt die »Tamimi-Press«, die Videos von beschossenen Demonstranten ins Netz stellt. Jeden Freitag richtet eine andere Tamimi-Familie das große Abendessen aus, das die Protes¬tierer von Nabi Saleh wieder stärken soll – darunter sind auch Unterstützer aus Israel und Europa.

»Wir brauchen nicht nach Israel zu fahren, um zu sehen, dass es auch Israelis gibt, mit denen man normal reden kann«, sagt Manal Tamimi. Sie ist eine der Wortführerinnen der Proteste und saß deswegen zweimal im Gefängnis. Die Mutter von vier Kindern hat das Pech, im ersten Haus der Dorfstraße zu wohnen. Dort, wo die Soldaten meist ihren ersten Posten errichten. An manchen Samstagen sammelt sie bis zu 60 tennisballgroße Tränengas¬geschosse und Patronen ein.

Nabi Saleh demonstriert seit Dezember 2009, seit Siedler nach Hunderten Hektar Olivenhainen auch noch die Wasserquelle des Dorfs konfiszierten. Seitdem wurde ein Mensch getötet, zirka 250 wurden verletzt und Dutzende verhaftet. Wie oft die Soldaten in Häuser eindrangen oder sie mit Tränengas ausräucherten hat niemand gezählt. Das Militär rechtfertigt sein Vorgehen damit, dass die Siedler Angst um ihr Leben hätten, wenn auf der anderen Seite regelmäßig demonstriert werde.

Manal sagt: »Würden wir ans Meer fahren, wäre das, als ob wir 364 Tage im Jahr gegen die Regeln der israelischen Regierung protestieren und an dem einen Tag aber nach ihren Regeln spielen. Nach ihren Regeln den Kontrollposten passieren, an ihrer Hand das Meer sehen.«

Es gibt keinen Urlaub von der Besatzung

Elham Tamimi wohnt mit ihrer Familie etwas abseits von der Demonstrationsroute. Trotzdem landen auch in ihrem Haus Tränengasgeschosse. Hier Kinder zu toleranten Menschen zu erziehen, sei schwierig, sagt sie. Nebenan liest ihre elfjährige Tochter Raneen auf Facebook die neuesten Nachrichten über die Proteste. Wie jeden Freitagvormittag verbarrikadiert sie dann gegen Mittag zusammen mit ihrem Vater und dem fünfjährigen Bruder die Fenster, damit keine Tränengasgeschosse eindringen können.

Wäre ein Ausflug ans Meer für die Kinder keine schöne Auszeit? »Nein, die Kinder müssen begreifen, was es heißt, unter Besatzung zu leben«, sagt Essam Tamimi. Er ist nicht empört, seine blauen Augen schauen nur müde zu Boden. Es gebe schließlich keinen Urlaub von der Besatzung. Essam arbeitet für die palästinensischen Sicherheitskräfte. Wie Witzfiguren kämen sie sich manchmal vor, sagt er, ohne jeden Handlungsspielraum. Dann würde er am liebsten hinschmeißen. Aber das geht ja nicht. »Wir müssen alles versuchen, um als friedliches Land und Volk anerkannt zu werden.«

Und die vier israelischen Rentnerinnen, die den Tag am Meer organisieren? Sie wissen, was sie tun und was sie damit auslösen. »Stundenlang haben wir diskutiert«, sagt Rachel Afek am Küchentisch in Ramat Hasharon, nördlich von Tel Aviv. Man sieht ihrer Wohnung an, dass sie früher für ein Kunstmagazin gearbeitet hat. Es gibt Tee aus frischen Kräutern und eine Schale mit Mandeln und Rosinen.

Sie wirft das alte Fragenkarussell noch einmal an: »Wie sollen wir es angehen? Sollen wir so viele Kinder wie möglich einladen oder immer mit denselben Dörfern zusammenarbeiten? Was werden die Kinder hinterher denken? Sind sie nicht umso frustrierter, wenn sie später nicht mehr ans Meer können? Und was sind wir? Ein politisches oder ein humanitäres Projekt?« Die Fragen beschäftigen die Frauen immer wieder aufs Neue.

Für Rachels Freundin Tzwia Shapira ist das Projekt kein rein humanitäres. Der israelischen Regierung gehe es um die totale Trennung von Israelis und Palästinensern. »So ist es einfach, den Israelis Angst einzujagen vor diesem schrecklichen Etwas, das sich Palästinenser nennt«, sagt die 69-Jährige Biowissenschaftlerin. Und Palästinenser sähen nur Soldaten und Siedler, die ihnen ihren Grund und Boden nähmen. Der Tag am Meer solle »diese separatistische Politik« unterwandern, wie sie die israelische Sicherheitspolitik nennt. Manchmal sagt sie auch »Apartheid« dazu.

Früher stand Tzwia auf einer Linie mit der Politik ihrer Regierung. Flaggen mit dem blauen Davidstern schmückten ihr Haus. Sie war sehr stolz auf ihr Land. »Aber dann haben mir meine Söhne die Augen geöffnet.« Der eine Sohn kam traumatisiert aus einem Militäreinsatz der zweiten Intifada zurück. Er konnte nicht ertragen, was seine Einheit den Palästinensern angetan hatte. Der andere weigerte sich als Pilot der Luftwaffe, auf zivile Ziele zu schießen, er wurde entlassen. »Sie fragten mich: Was für eine Nation habt ihr da aufgebaut?« Seitdem sei sie viel in palästinensischen Gebieten unterwegs gewesen, sie wollte sehen, was dort vor sich geht: »Das Wegsehen ist unsere Gefahr, das Nichtwissen, das Nicht-wissen-Wollen.«

»In Israel ist sicher alles schöner«

Der Tag, an dem die Kinder von Ni’lin ans Meer fahren, beginnt mit einem Problem. Es gibt 58 Tagesvisa und 51 Sitzplätze im Bus. Nach zwei Stunden Diskussion fahren der Bus und ein zusätzliches Auto endlich los. Viele Kinder passieren das erste Mal die Grenze. Der zwölfjährigen Wafa ist das nicht geheuer. Ihr Elternhaus steht in der Nähe der Sperranlage. Bisher hat sie mit dieser Mauer nichts Gutes erlebt. Aber sie freut sich aufs Meer. »In Israel, da ist sicher alles größer und schöner.«

Auch in Nabi Saleh stellt man sich ein schönes Israel hinter der Mauer vor. Für die elfjährige Raneen ist es außerdem ein Land, in dem viele freundliche Menschen leben. Trotzdem möchte sie nicht an dem Meerprojekt teilnehmen und sagt in einem Tonfall, als spräche eine Erwachsene: »Ich werde mein ganzes Leben hart dafür ar¬beiten, dass es ein freies Palästina gibt.«

Ihr Vater und ihr Bruder Mahmoud machen sich wie jeden Freitag kurz vor zwölf Uhr auf zur Moschee. Im Schatten eines Baumes haben sich 30 Unterstützer aus Kanada, Spanien, Israel, den Niederlanden und England versammelt. Manche haben Schwimmbrillen gegen das Tränengas bei sich, alle tragen Tücher und Schals, um sich später das Atmen etwas zu erleichtern. Als die Männer aus der Moschee kommen, formiert sich ein Zug aus 70 Menschen. Langsam biegt er um die Ecke auf die Dorfstraße. »Weg mit der Besatzung!«, rufen die Demonstranten.

Mahmoud und sein Vater bleiben am hinteren Ende. Sie wissen, warum. Nach ein paar Metern landet das erste Geschoss in der Menge. Dann zischt es von allen Seiten, das Gas breitet sich sofort aus, man kann nur noch durch einen Tränenschleier sehen. Das Gesicht brennt, die Lunge brennt, Würgereiz. Die Demonstranten fliehen in die nächsten Häuser.

In abgedunkelten Räumen sitzen sie mit roten Augen auf dem Boden, hustend und nach Luft ringend, um wieder Energie zu sammeln für die nächsten Demonstrationsmeter. Einige Kinder blicken stumm aus verheulten Augen. Sie waren nicht so weit zurückgeblieben wie Mahmoud und sein Vater. Immer wieder fallen Schüsse, gepanzerte Jeeps sind auf den Straßen zu sehen. Die Bilanz des Tages: ein verhafteter 14-Jähriger und ein schwer verletzter 15-Jähriger, eine Tränengaskartusche traf ihn in den Rücken.

Wafa hat sich am Salzwasser verschluckt, sie ringt nach Luft, aber es ist großartig. Einige Mütter wagen sich mit ihren langen Gewändern in die Schwimmreifen und lachen mit ihren Kindern um die Wette. Rachel und Tzwia kümmern sich mit einer Handvoll Freiwilliger um ihre Gäste. Sie cremen ein, verteilen Eis und Kekse, pusten Schwimmreifen auf und halten die Zögerlichen beim Gang ins Wasser an der Hand. Später gibt es Mittagessen in einem Schulzentrum, zwei Clowns bringen die Kinder zum Lachen, zum Abschluss fährt ein Schiff die Gäste durch den alten Hafen von Jaffa und aufs Meer hinaus. Am Ende sind die Kinder müde und glücklich.

Spaß, Neid und Hoffnung auf Frieden

Für manche Erwachsenen hat der Tag einen bitteren Nachgeschmack. »Natürlich hatte ich heute großen Spaß«, sagt eine junge Mutter, die schon zum zweiten Mal dabei war. »Aber es macht mich auch neidisch. Ich möchte ja wieder ans Meer fahren und weiß, dass ich das nicht kann. Und deswegen möchte ich es umso mehr.« Ihre Schultern zucken zum sonnenverbrannten Gesicht. »Im Großen und Ganzen bin ich hinterher wohl frustrierter als vorher. Trotzdem: Es war großartig.«

5000 Schekel, etwa 1000 Euro, kostet so ein Tag am Meer. Er wird aus Spenden finanziert. Anfangs gab es Kommunikationsprobleme: »Die Kinder fragten, ob wir von der Hamas seien oder von der EU«, erzählt eine Freiwillige. Seitdem werden von den Spenden auch Flyer verteilt, auf denen steht, wer das Projekt organisiert. Und dass es der Verbrüderung von Israelis und Palästinensern dienen soll.

Buch, Ralf Liebe, 2008

An Grenzen

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»Es ist, als werde ein Fenster aufgerissen. Diverse Fenster. Was hereinströmt, ist heiß und kalt. Nie lau. … Das ist es, was dieses Buch so lebendig macht, so konkurrenzlos: Es ist lebendig, es ist roher Stoff.«
Wolfgang Büscher im Vorwort

Acht junge Deutsche unternehmen eine Reise durch jenen kleinen Landstrich, dem man schon so viele Namen und noch immer keine festen Grenzen gegeben hat. Sie erleben ein Israel und Palästina jenseits der Sofaperspektive, jenseits der immer gleichen Medienbilder von Soldaten, Anschlägen und steifem Händeschütteln. Die rucksackreisenden Autorinnen und Autoren treffen auf den Alltag und die Menschen der Region, hören ihre Geschichten, leben in ihren Häusern. Auch wenn der Konflikt nicht die Reise bestimmen sollte, drängte er sich am Ende in fast alle Begegnungen. Backpacking the Nahost-Konflikt.

Florentine Dame und ich entwickelten das Konzept zu „An Grenzen“ neben unserem Studium in vielen WG-Küchen-Sitzungen. Wir suchten Kontakt zu Gastgebern und Gesprächspartnern in Israel und Palästina, wählten die Autoren aus, redigierten die Texte und fügten sie zu einem Buch zusammen.

www.an-grenzen.de